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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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hatten, nachdem die Rechtsfrage entschieden war. Während man tüchtige
Beamte genug im Lande finden konnte, setzte man an einige Directorial-
stellen Altpreußen; ja ein Nassauer, der einen Verwandten im Ministerium
hatte, wurde Kreisgerichtsdirector. Noch Schlimmeres als einzelne Richter
hatten die sämmtlichen hessischen Gerichtsactuare zu erleiden. Diese Männer,
welche bis auf ganz wenige Ausnahmen aus alter Zeit sämmtlich eine aca-
demische Bildung erhalten hatten, genossen bisher einen festen Gehalt von
400--700 Thalern und daneben für die ihnen gesetzlich übertragenen Nota¬
riatsgeschäfte u. s. w. Gebühren, die bei Vielen jener fixen Summe gleich¬
kamen, bei Manchen sie überstiegen. Die neuen Gesetze entzogen ihnen dieses
Uebereinkommen und der Justizminister, der sie den altpreußischen, nichtstudirten
Secretairen ohne Weiteres gleichstellte, wies ihnen Alles in Allem einen fixen
Gehalt von 460--700 Thalern zu. Dadurch kamen eine Menge Familien,
deren Einnahme auf die Hälfte reducirt wurde, in die bitterste Noth. Sie
beriefen sich aus Recht und Billigkeit. Aber es dauerte fast ein Jcihr, bis
ihre Ansprüche wenigstens theilweise anerkannt wurden und ihnen eine Ent¬
schädigung zu Theil wurde, deren Vertheilung vielleicht dem strengen Recht
entspricht, aber doch manche unverschuldete Wunde offen läßt. -- Nicht besser
erging es den Unterbeamten und sast am schlimmsten den Advocaten an den
kleineren Orten, deren Haupteinkommen aus den der Competenz der Einzel¬
richter entzogenen Processen geflossen war und denen das Gesetz daneben
noch die Befugniß zum Auftreten vor Gerichten zweiter und dritter In¬
stanz entzog.

Daß Erfahrungen und Eindrücke so peinlicher Art nicht sofort verwun¬
den werden können, versteht sich von selbst. Desto bedeutsamer ist aber, daß
man in Hessen nicht bei denselben stehen geblieben ist, sondern daß der ma߬
gebende Theil der hessischen Bevölkerung neben diesen noch andere Kriterien
zur Beurtheilung des Umschwungs gehabt hat, der sich seit den letzten drei
Jahren auf heimischer Erde vollzogen. Man hat über dem Ungemach und
den Jnconvenienzen, die man an eigener Haut erfahren, nicht vergessen, daß
der große Proceß, der sich seit 1866 in Deutschland vollzogen dem Ganzen
unberechenbare Vortheile gebracht hat und daß die Rechnung auf eine für
alle Theile opferlose und bequeme Lösung der deutschen Frage nur von denen
gemacht werden konnte, die in politischen Dingen überhaupt nicht zu rechnen
verstehen und denen es mit ihren Calculationen nie rechter Ernst gewesen.
Diese Fähigkeit, wo es die große vaterländische Sache gilt, noch andere als
specifisch hessische Gesichtspunkte heranzuziehen, hat man sich bei uns trotz
Allem und Allem dem, nicht nehmen lassen. Hoffen wir, daß der gesunde
und patriotische Sinn, den das hessische Volk bewiesen, nicht zum zweiten
Mal aus so harte Proben gestellt werde, wie es die vom Herbst 1867 waren


hatten, nachdem die Rechtsfrage entschieden war. Während man tüchtige
Beamte genug im Lande finden konnte, setzte man an einige Directorial-
stellen Altpreußen; ja ein Nassauer, der einen Verwandten im Ministerium
hatte, wurde Kreisgerichtsdirector. Noch Schlimmeres als einzelne Richter
hatten die sämmtlichen hessischen Gerichtsactuare zu erleiden. Diese Männer,
welche bis auf ganz wenige Ausnahmen aus alter Zeit sämmtlich eine aca-
demische Bildung erhalten hatten, genossen bisher einen festen Gehalt von
400—700 Thalern und daneben für die ihnen gesetzlich übertragenen Nota¬
riatsgeschäfte u. s. w. Gebühren, die bei Vielen jener fixen Summe gleich¬
kamen, bei Manchen sie überstiegen. Die neuen Gesetze entzogen ihnen dieses
Uebereinkommen und der Justizminister, der sie den altpreußischen, nichtstudirten
Secretairen ohne Weiteres gleichstellte, wies ihnen Alles in Allem einen fixen
Gehalt von 460—700 Thalern zu. Dadurch kamen eine Menge Familien,
deren Einnahme auf die Hälfte reducirt wurde, in die bitterste Noth. Sie
beriefen sich aus Recht und Billigkeit. Aber es dauerte fast ein Jcihr, bis
ihre Ansprüche wenigstens theilweise anerkannt wurden und ihnen eine Ent¬
schädigung zu Theil wurde, deren Vertheilung vielleicht dem strengen Recht
entspricht, aber doch manche unverschuldete Wunde offen läßt. — Nicht besser
erging es den Unterbeamten und sast am schlimmsten den Advocaten an den
kleineren Orten, deren Haupteinkommen aus den der Competenz der Einzel¬
richter entzogenen Processen geflossen war und denen das Gesetz daneben
noch die Befugniß zum Auftreten vor Gerichten zweiter und dritter In¬
stanz entzog.

Daß Erfahrungen und Eindrücke so peinlicher Art nicht sofort verwun¬
den werden können, versteht sich von selbst. Desto bedeutsamer ist aber, daß
man in Hessen nicht bei denselben stehen geblieben ist, sondern daß der ma߬
gebende Theil der hessischen Bevölkerung neben diesen noch andere Kriterien
zur Beurtheilung des Umschwungs gehabt hat, der sich seit den letzten drei
Jahren auf heimischer Erde vollzogen. Man hat über dem Ungemach und
den Jnconvenienzen, die man an eigener Haut erfahren, nicht vergessen, daß
der große Proceß, der sich seit 1866 in Deutschland vollzogen dem Ganzen
unberechenbare Vortheile gebracht hat und daß die Rechnung auf eine für
alle Theile opferlose und bequeme Lösung der deutschen Frage nur von denen
gemacht werden konnte, die in politischen Dingen überhaupt nicht zu rechnen
verstehen und denen es mit ihren Calculationen nie rechter Ernst gewesen.
Diese Fähigkeit, wo es die große vaterländische Sache gilt, noch andere als
specifisch hessische Gesichtspunkte heranzuziehen, hat man sich bei uns trotz
Allem und Allem dem, nicht nehmen lassen. Hoffen wir, daß der gesunde
und patriotische Sinn, den das hessische Volk bewiesen, nicht zum zweiten
Mal aus so harte Proben gestellt werde, wie es die vom Herbst 1867 waren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/500>, abgerufen am 04.07.2024.