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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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-- Man konnte eben an allen Ecken und Enden sehen, daß man sich in
Berlin nicht die geringste Mühe gegeben hatte, die hessischen Zustände zu
studiren, während man sämmtlichen hessischen Juristen und Nichtjuristen zu-
muthete, die eingehendsten Studien über das preußische Recht einzelner Pro¬
vinzen zu machen.

Es liegt auf der Hand, daß diese Art von legislativer Eilfertigkeit dem
hessischen Volke keinen sonderlichen Begriff von der Solidität der preußischen
Zustände beibringen konnte, und daß oftmals die Frage aufgeworfen und in
nicht allzugünstiger Weise glossirt wurde, warum gerade dem Rechtsvolk der
Hessen so etwas geboten werde, während man sich doch in Berlin darüber
keine grauen Haare wachsen lasse, ob nicht der Fortbestand der hannoverschen
Gerichtsverfassung, Proceßordnung und Gerichtskostengesetze die Existenz und
Einheit der preußischen Monarchie gefährde. Die Annahme, daß man in
Berlin desto mehr durchsetze, je ungeberdiger und feindlicher man sich gegen
die Ereignisse von 1866 anstelle, daß man mehr Rücksichten gegen solche
nehme, die sich als Freunde der alten Zustände gerirten, als gegen die
Freunde des neuen Staates, schien durch ein eclatantes Beispiel bewiesen
werden zu können, nachdem man dieselbe Annahme schon im Allgemeinen mit
Sicherheit aus der natürlichen Stellung der in Preußen herrschenden Partei
zu den in den untergegangenen Staaten vor und während des Krieges
von 1866 dominirenden Coterien ableiten zu können, geglaubt hatte. Ab¬
gesehen von diesen allgemeinen Erwägungen, wodurch der Inhalt und die
Art und Weise der Publication der neuen Gesetze in weiten Kreisen angeregt
wurden, und die gewiß der Verschmelzung unseres Ländchrns mit Preußen
nicht zuträglich waren, wurde das Recht suchende Publicum noch fortwährend
durch die mit der neuen Organisation verbundene Steigerung der Proce߬
kosten zu unliebsamen Vergleichen mit früheren Zeiten aufgefordert und ganze
Beamtenclassen durch Zurücksetzung und Schmälerung ihres Einkommens zu
Feinden der neuen Zustände gemacht. Die Kostenrechnungen nahmen näm¬
lich gegen früher ungewöhnliche Dimensionen an. In der freiwilligen Ge¬
richtsbarkeit betrugen jetzt die Kosten im Durchschnitte das dreifache gegen
früher. Bei Kaufverträgen u. s. w. erhöht sich allein der Stempel um das
Doppelte, die Kosten des Zwangsversteigerungsverfahrens steigen auf das
Vierfache.

Und wie viele Privatinteressen wurden rücksichtslos verletzt! Wir wollen
nicht reden von Degradationen höherer Justizbeamten, denen zugemuthet
wurde, aus Richterstellen höchster Instanz zu denen zweiter Instanz hinabzu-
steigen ze. Die am rücksichtslosesten auf diese Weise Betroffenen wurden schlie߬
lich mit vollem Gehalt zur Disposition gestellt; andere nahmen, nur um
thätig sein zu können, geringere Richterstellen an, als sie früher bekleidet


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— Man konnte eben an allen Ecken und Enden sehen, daß man sich in
Berlin nicht die geringste Mühe gegeben hatte, die hessischen Zustände zu
studiren, während man sämmtlichen hessischen Juristen und Nichtjuristen zu-
muthete, die eingehendsten Studien über das preußische Recht einzelner Pro¬
vinzen zu machen.

Es liegt auf der Hand, daß diese Art von legislativer Eilfertigkeit dem
hessischen Volke keinen sonderlichen Begriff von der Solidität der preußischen
Zustände beibringen konnte, und daß oftmals die Frage aufgeworfen und in
nicht allzugünstiger Weise glossirt wurde, warum gerade dem Rechtsvolk der
Hessen so etwas geboten werde, während man sich doch in Berlin darüber
keine grauen Haare wachsen lasse, ob nicht der Fortbestand der hannoverschen
Gerichtsverfassung, Proceßordnung und Gerichtskostengesetze die Existenz und
Einheit der preußischen Monarchie gefährde. Die Annahme, daß man in
Berlin desto mehr durchsetze, je ungeberdiger und feindlicher man sich gegen
die Ereignisse von 1866 anstelle, daß man mehr Rücksichten gegen solche
nehme, die sich als Freunde der alten Zustände gerirten, als gegen die
Freunde des neuen Staates, schien durch ein eclatantes Beispiel bewiesen
werden zu können, nachdem man dieselbe Annahme schon im Allgemeinen mit
Sicherheit aus der natürlichen Stellung der in Preußen herrschenden Partei
zu den in den untergegangenen Staaten vor und während des Krieges
von 1866 dominirenden Coterien ableiten zu können, geglaubt hatte. Ab¬
gesehen von diesen allgemeinen Erwägungen, wodurch der Inhalt und die
Art und Weise der Publication der neuen Gesetze in weiten Kreisen angeregt
wurden, und die gewiß der Verschmelzung unseres Ländchrns mit Preußen
nicht zuträglich waren, wurde das Recht suchende Publicum noch fortwährend
durch die mit der neuen Organisation verbundene Steigerung der Proce߬
kosten zu unliebsamen Vergleichen mit früheren Zeiten aufgefordert und ganze
Beamtenclassen durch Zurücksetzung und Schmälerung ihres Einkommens zu
Feinden der neuen Zustände gemacht. Die Kostenrechnungen nahmen näm¬
lich gegen früher ungewöhnliche Dimensionen an. In der freiwilligen Ge¬
richtsbarkeit betrugen jetzt die Kosten im Durchschnitte das dreifache gegen
früher. Bei Kaufverträgen u. s. w. erhöht sich allein der Stempel um das
Doppelte, die Kosten des Zwangsversteigerungsverfahrens steigen auf das
Vierfache.

Und wie viele Privatinteressen wurden rücksichtslos verletzt! Wir wollen
nicht reden von Degradationen höherer Justizbeamten, denen zugemuthet
wurde, aus Richterstellen höchster Instanz zu denen zweiter Instanz hinabzu-
steigen ze. Die am rücksichtslosesten auf diese Weise Betroffenen wurden schlie߬
lich mit vollem Gehalt zur Disposition gestellt; andere nahmen, nur um
thätig sein zu können, geringere Richterstellen an, als sie früher bekleidet


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[0499] — Man konnte eben an allen Ecken und Enden sehen, daß man sich in Berlin nicht die geringste Mühe gegeben hatte, die hessischen Zustände zu studiren, während man sämmtlichen hessischen Juristen und Nichtjuristen zu- muthete, die eingehendsten Studien über das preußische Recht einzelner Pro¬ vinzen zu machen. Es liegt auf der Hand, daß diese Art von legislativer Eilfertigkeit dem hessischen Volke keinen sonderlichen Begriff von der Solidität der preußischen Zustände beibringen konnte, und daß oftmals die Frage aufgeworfen und in nicht allzugünstiger Weise glossirt wurde, warum gerade dem Rechtsvolk der Hessen so etwas geboten werde, während man sich doch in Berlin darüber keine grauen Haare wachsen lasse, ob nicht der Fortbestand der hannoverschen Gerichtsverfassung, Proceßordnung und Gerichtskostengesetze die Existenz und Einheit der preußischen Monarchie gefährde. Die Annahme, daß man in Berlin desto mehr durchsetze, je ungeberdiger und feindlicher man sich gegen die Ereignisse von 1866 anstelle, daß man mehr Rücksichten gegen solche nehme, die sich als Freunde der alten Zustände gerirten, als gegen die Freunde des neuen Staates, schien durch ein eclatantes Beispiel bewiesen werden zu können, nachdem man dieselbe Annahme schon im Allgemeinen mit Sicherheit aus der natürlichen Stellung der in Preußen herrschenden Partei zu den in den untergegangenen Staaten vor und während des Krieges von 1866 dominirenden Coterien ableiten zu können, geglaubt hatte. Ab¬ gesehen von diesen allgemeinen Erwägungen, wodurch der Inhalt und die Art und Weise der Publication der neuen Gesetze in weiten Kreisen angeregt wurden, und die gewiß der Verschmelzung unseres Ländchrns mit Preußen nicht zuträglich waren, wurde das Recht suchende Publicum noch fortwährend durch die mit der neuen Organisation verbundene Steigerung der Proce߬ kosten zu unliebsamen Vergleichen mit früheren Zeiten aufgefordert und ganze Beamtenclassen durch Zurücksetzung und Schmälerung ihres Einkommens zu Feinden der neuen Zustände gemacht. Die Kostenrechnungen nahmen näm¬ lich gegen früher ungewöhnliche Dimensionen an. In der freiwilligen Ge¬ richtsbarkeit betrugen jetzt die Kosten im Durchschnitte das dreifache gegen früher. Bei Kaufverträgen u. s. w. erhöht sich allein der Stempel um das Doppelte, die Kosten des Zwangsversteigerungsverfahrens steigen auf das Vierfache. Und wie viele Privatinteressen wurden rücksichtslos verletzt! Wir wollen nicht reden von Degradationen höherer Justizbeamten, denen zugemuthet wurde, aus Richterstellen höchster Instanz zu denen zweiter Instanz hinabzu- steigen ze. Die am rücksichtslosesten auf diese Weise Betroffenen wurden schlie߬ lich mit vollem Gehalt zur Disposition gestellt; andere nahmen, nur um thätig sein zu können, geringere Richterstellen an, als sie früher bekleidet 62"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/499>, abgerufen am 25.07.2024.