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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Endlich war der von Hassenpflug geschaffene, mit dem größten Mißtrauen
aufgenommene Competenzgerichtshof von dem unbeugsamen Willen der Stände
wieder zu Fall gebracht worden. Der alte Grundsatz, daß dem Richter die
Prüfung der Verfasfungs- und Gesetzmäßigkeit der Anordnungen der Ver¬
waltungsbehörden und darunter auch der Verbindlichkeit gesetzgeberischer Er¬
lasse für den Einzelnen zustehe, war noch neuerdings dadurch wieder zur
Geltung gelangt, daß die Gerichte eine zur Hasfenpflugschen Zeit einseitig
erlassene Verordnung für ungültig erklärt hatten.

Daß an diesem Zustande unserer Rechtspflege während der Dictatur-
periode etwas geändert werden werde, hatten sich selbst die Pessimisten nicht
träumen lassen. Glaubte man doch allgemein, unsere neue Regierung habe
Arbeit genug, wenn sie nur das unumgänglich Nothwendige gründlich vor¬
bereiten und ausführen wolle; das was bei uns wohlgeordnet sei und im
Interesse des Staatsganzen keiner Umgestaltung bedürfe, werde sie gewiß
schon allein aus Staatsklugheit und im Interesse eines ächten Conservati-
visinus ruhig bestehen lassen. Selbst als die ersten Nachrichten über
die Reformpläne des Grafen zur Lippe hierherkamen, konnte man den¬
selben kaum ernsten Glauben schenken. Man vermochte absolut keine zwin¬
genden Gründe für das Borgehen des Justizministeriums ausfindig zu
machen und war überdies zu sehr von dem Glauben beherrscht, in einem
Verfassungsstaate, wie Preußen, werde keine Umbildung der Rechtspflege ohne
Mitwirkung der Stände möglich sein. Aber der Graf zur Lippe, dem damals
eine Machtfülle zu Gebote stand, wie sie in der Gegenwart niemals wieder
einem Justizminister zur Verfügung gestellt werden wird, dachte anders. Als
habe er seinen Drang nach reformirender Thätigkeit in Preußen selbst nicht
befriedigen dürfen, stürzte er auf uns arme Hessen ein. Der Graf glaubte
bei uns reformiren zu müssen, ohne daß wir den Grund dazu einsehen konn¬
ten, oder daß derselbe uns nachgewiesen wurde. Das Gerücht, daß wir und
alle neu erworbenen Provinzen mit dem in den Bezirken Greifswald und
Ehrenbreitstein, in welchen nicht das allgemeine Landrecht, sondern gemeines
Recht gilt, geltenden Prozeßrecht beschenkt werden sollten, nahm immer festere
Gestalt an. Die öffentliche Meinung protestirte zwar sofort höchst vernehm¬
lich gegen diese Maßregel. Am lautesten opponirten die Hannoveraner, wo
man eine ausgezeichnete Proceßordnung seit den SOer Jahren besaß. Ihre
Stimmen fanden auch in Berlin Gehör, wo man die politischen Antipathien
eines großen Theiles der Bevölkerung des Welfenreiches nicht mehr reizen zu
sollen für zweckmäßig fand. Die guten Hessen, die sich ohne viel Murren in
die neue Situation gefunden hatten, waren weniger gefährlich und darum
auch weniger verücksichtigenswerth. Die eindringlichsten Vorstellungen der
zur Anhörung des neuen Entwurfs nach Berlin berufenen hessischen Juristen


Endlich war der von Hassenpflug geschaffene, mit dem größten Mißtrauen
aufgenommene Competenzgerichtshof von dem unbeugsamen Willen der Stände
wieder zu Fall gebracht worden. Der alte Grundsatz, daß dem Richter die
Prüfung der Verfasfungs- und Gesetzmäßigkeit der Anordnungen der Ver¬
waltungsbehörden und darunter auch der Verbindlichkeit gesetzgeberischer Er¬
lasse für den Einzelnen zustehe, war noch neuerdings dadurch wieder zur
Geltung gelangt, daß die Gerichte eine zur Hasfenpflugschen Zeit einseitig
erlassene Verordnung für ungültig erklärt hatten.

Daß an diesem Zustande unserer Rechtspflege während der Dictatur-
periode etwas geändert werden werde, hatten sich selbst die Pessimisten nicht
träumen lassen. Glaubte man doch allgemein, unsere neue Regierung habe
Arbeit genug, wenn sie nur das unumgänglich Nothwendige gründlich vor¬
bereiten und ausführen wolle; das was bei uns wohlgeordnet sei und im
Interesse des Staatsganzen keiner Umgestaltung bedürfe, werde sie gewiß
schon allein aus Staatsklugheit und im Interesse eines ächten Conservati-
visinus ruhig bestehen lassen. Selbst als die ersten Nachrichten über
die Reformpläne des Grafen zur Lippe hierherkamen, konnte man den¬
selben kaum ernsten Glauben schenken. Man vermochte absolut keine zwin¬
genden Gründe für das Borgehen des Justizministeriums ausfindig zu
machen und war überdies zu sehr von dem Glauben beherrscht, in einem
Verfassungsstaate, wie Preußen, werde keine Umbildung der Rechtspflege ohne
Mitwirkung der Stände möglich sein. Aber der Graf zur Lippe, dem damals
eine Machtfülle zu Gebote stand, wie sie in der Gegenwart niemals wieder
einem Justizminister zur Verfügung gestellt werden wird, dachte anders. Als
habe er seinen Drang nach reformirender Thätigkeit in Preußen selbst nicht
befriedigen dürfen, stürzte er auf uns arme Hessen ein. Der Graf glaubte
bei uns reformiren zu müssen, ohne daß wir den Grund dazu einsehen konn¬
ten, oder daß derselbe uns nachgewiesen wurde. Das Gerücht, daß wir und
alle neu erworbenen Provinzen mit dem in den Bezirken Greifswald und
Ehrenbreitstein, in welchen nicht das allgemeine Landrecht, sondern gemeines
Recht gilt, geltenden Prozeßrecht beschenkt werden sollten, nahm immer festere
Gestalt an. Die öffentliche Meinung protestirte zwar sofort höchst vernehm¬
lich gegen diese Maßregel. Am lautesten opponirten die Hannoveraner, wo
man eine ausgezeichnete Proceßordnung seit den SOer Jahren besaß. Ihre
Stimmen fanden auch in Berlin Gehör, wo man die politischen Antipathien
eines großen Theiles der Bevölkerung des Welfenreiches nicht mehr reizen zu
sollen für zweckmäßig fand. Die guten Hessen, die sich ohne viel Murren in
die neue Situation gefunden hatten, waren weniger gefährlich und darum
auch weniger verücksichtigenswerth. Die eindringlichsten Vorstellungen der
zur Anhörung des neuen Entwurfs nach Berlin berufenen hessischen Juristen


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[0496] Endlich war der von Hassenpflug geschaffene, mit dem größten Mißtrauen aufgenommene Competenzgerichtshof von dem unbeugsamen Willen der Stände wieder zu Fall gebracht worden. Der alte Grundsatz, daß dem Richter die Prüfung der Verfasfungs- und Gesetzmäßigkeit der Anordnungen der Ver¬ waltungsbehörden und darunter auch der Verbindlichkeit gesetzgeberischer Er¬ lasse für den Einzelnen zustehe, war noch neuerdings dadurch wieder zur Geltung gelangt, daß die Gerichte eine zur Hasfenpflugschen Zeit einseitig erlassene Verordnung für ungültig erklärt hatten. Daß an diesem Zustande unserer Rechtspflege während der Dictatur- periode etwas geändert werden werde, hatten sich selbst die Pessimisten nicht träumen lassen. Glaubte man doch allgemein, unsere neue Regierung habe Arbeit genug, wenn sie nur das unumgänglich Nothwendige gründlich vor¬ bereiten und ausführen wolle; das was bei uns wohlgeordnet sei und im Interesse des Staatsganzen keiner Umgestaltung bedürfe, werde sie gewiß schon allein aus Staatsklugheit und im Interesse eines ächten Conservati- visinus ruhig bestehen lassen. Selbst als die ersten Nachrichten über die Reformpläne des Grafen zur Lippe hierherkamen, konnte man den¬ selben kaum ernsten Glauben schenken. Man vermochte absolut keine zwin¬ genden Gründe für das Borgehen des Justizministeriums ausfindig zu machen und war überdies zu sehr von dem Glauben beherrscht, in einem Verfassungsstaate, wie Preußen, werde keine Umbildung der Rechtspflege ohne Mitwirkung der Stände möglich sein. Aber der Graf zur Lippe, dem damals eine Machtfülle zu Gebote stand, wie sie in der Gegenwart niemals wieder einem Justizminister zur Verfügung gestellt werden wird, dachte anders. Als habe er seinen Drang nach reformirender Thätigkeit in Preußen selbst nicht befriedigen dürfen, stürzte er auf uns arme Hessen ein. Der Graf glaubte bei uns reformiren zu müssen, ohne daß wir den Grund dazu einsehen konn¬ ten, oder daß derselbe uns nachgewiesen wurde. Das Gerücht, daß wir und alle neu erworbenen Provinzen mit dem in den Bezirken Greifswald und Ehrenbreitstein, in welchen nicht das allgemeine Landrecht, sondern gemeines Recht gilt, geltenden Prozeßrecht beschenkt werden sollten, nahm immer festere Gestalt an. Die öffentliche Meinung protestirte zwar sofort höchst vernehm¬ lich gegen diese Maßregel. Am lautesten opponirten die Hannoveraner, wo man eine ausgezeichnete Proceßordnung seit den SOer Jahren besaß. Ihre Stimmen fanden auch in Berlin Gehör, wo man die politischen Antipathien eines großen Theiles der Bevölkerung des Welfenreiches nicht mehr reizen zu sollen für zweckmäßig fand. Die guten Hessen, die sich ohne viel Murren in die neue Situation gefunden hatten, waren weniger gefährlich und darum auch weniger verücksichtigenswerth. Die eindringlichsten Vorstellungen der zur Anhörung des neuen Entwurfs nach Berlin berufenen hessischen Juristen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/496>, abgerufen am 04.07.2024.