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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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dem Bürger auch das Recht, wo er mit den Verwaltungsbehörden in Aus¬
übung öffentlich-rechtlicher Functionen in Conflikt gerieth. Der oberste
Gerichtshof in Cassel genoß eines weit über die Grenzen seines kleinen
Rechtsgebietes hinausgehenden Rufes der Tüchtigkeit. Auch an ihm war
freilich die Hassenpflug-Vilmarsche Mißregierung nicht spurlos vorübergegangen.
Man hatte Männer zu seinen Mitgliedern gemacht, die nicht als bedeutende
Juristen, sondern in erster Linie nur als gesinnungstüchtige Anhänger des
zeitweiligen Regimes galten. Doch selbst auf diese wirkte die Tradition des
Gerichtshofes assimilirend und fördernd ein, so daß es nach Wiederherstellung
der Verfassung den vereinten Bestrebungen der Regierung und der Stände
verhältnißmäßig leicht gelang, ihn nicht nur in dem alten Geiste wieder¬
herzustellen, sondern auch den Bedürfnissen des modernen Lebens entsprechend
umzugestalten. Ein neues Gerichtsorganisationsgesetz vereinigte die Vortheile
des Einzelrichterwesens und der collegialischen Behandlung. In den gering¬
fügigen, zur Competenz der Einzelrichter verwiesenen Strafsachen wurden den¬
selben Schöffen an die Seite gegeben, die wichtigeren Strafsachen aber zur
Aburtheilung durch die Collegialgerichte bestimmt. Diese bildeten zugleich die
zweite Instanz für die von den Einzelrichtern entschiedenen Sachen. Auch
der Civilproceß war im Jahre 1863 durch Erlaß einer Novelle neu geordnet
und dabei dem Princip der Mündlichkeit Rechnung getragen worden. An¬
gesichts der Bestrebungen um Herstellung einer allgemeinen deutschen Civil-
proeeßgesetzgebung hielt man den Zeitpunkt nicht für gegeben, um selbst¬
ständig grundsätzliche Aenderungen des Rechtszustandes vorzunehmen. Unser
Proceßverfahren war seitdem ein rasches und dabei doch der Gründlichkeit
nicht entbehrendes. Wenn gleichwohl Klagen über Rechtsverschleppung gehört
wurden, und bei Verlegung des Oberappellationsgerichts nach Berlin eine
ganze Anzahl rückständiger Sachen hier vorgefunden wurde, so lag das
weniger an den Einrichtungen als an Personen, die als Erbstücke der Hassen-
pflugschen Reactionsperiode mit herübergekommen waren. Der Strafproceß
war im Jahre 1848 auf Grund des rheinischen Vorbildes vollständig um¬
gestaltet, später von Hassenpflug wieder verschlechtert, und im Jahre 1863
durch Erlaß einer umfassenden Proceßordnung neu geregelt worden. Dadurch
wurden jene Verunstaltungen wieder entfernt und dazu die Erfahrungen be¬
nutzt, die man seitdem in Deutschland nach der Einführung des mündlichen
öffentlichen Verfahrens gemacht hatte. Minder befriedigend war freilich der
Zustand des materiellen Strafrechts, das die Carolina zur formellen Grund¬
lage hatte, dagegen in Wahrheit zum größten Theile auf der Praxis der Ge¬
richte und auf einer zahllosen Reihe von Speeialgesetzen aus den verschiedensten
Entwickelungsstufen der Volkswirthschaft und des öffentlichen Lebens be¬
ruhte und schon lange einer Umgestaltung dringend bedürftig gewesen war.


dem Bürger auch das Recht, wo er mit den Verwaltungsbehörden in Aus¬
übung öffentlich-rechtlicher Functionen in Conflikt gerieth. Der oberste
Gerichtshof in Cassel genoß eines weit über die Grenzen seines kleinen
Rechtsgebietes hinausgehenden Rufes der Tüchtigkeit. Auch an ihm war
freilich die Hassenpflug-Vilmarsche Mißregierung nicht spurlos vorübergegangen.
Man hatte Männer zu seinen Mitgliedern gemacht, die nicht als bedeutende
Juristen, sondern in erster Linie nur als gesinnungstüchtige Anhänger des
zeitweiligen Regimes galten. Doch selbst auf diese wirkte die Tradition des
Gerichtshofes assimilirend und fördernd ein, so daß es nach Wiederherstellung
der Verfassung den vereinten Bestrebungen der Regierung und der Stände
verhältnißmäßig leicht gelang, ihn nicht nur in dem alten Geiste wieder¬
herzustellen, sondern auch den Bedürfnissen des modernen Lebens entsprechend
umzugestalten. Ein neues Gerichtsorganisationsgesetz vereinigte die Vortheile
des Einzelrichterwesens und der collegialischen Behandlung. In den gering¬
fügigen, zur Competenz der Einzelrichter verwiesenen Strafsachen wurden den¬
selben Schöffen an die Seite gegeben, die wichtigeren Strafsachen aber zur
Aburtheilung durch die Collegialgerichte bestimmt. Diese bildeten zugleich die
zweite Instanz für die von den Einzelrichtern entschiedenen Sachen. Auch
der Civilproceß war im Jahre 1863 durch Erlaß einer Novelle neu geordnet
und dabei dem Princip der Mündlichkeit Rechnung getragen worden. An¬
gesichts der Bestrebungen um Herstellung einer allgemeinen deutschen Civil-
proeeßgesetzgebung hielt man den Zeitpunkt nicht für gegeben, um selbst¬
ständig grundsätzliche Aenderungen des Rechtszustandes vorzunehmen. Unser
Proceßverfahren war seitdem ein rasches und dabei doch der Gründlichkeit
nicht entbehrendes. Wenn gleichwohl Klagen über Rechtsverschleppung gehört
wurden, und bei Verlegung des Oberappellationsgerichts nach Berlin eine
ganze Anzahl rückständiger Sachen hier vorgefunden wurde, so lag das
weniger an den Einrichtungen als an Personen, die als Erbstücke der Hassen-
pflugschen Reactionsperiode mit herübergekommen waren. Der Strafproceß
war im Jahre 1848 auf Grund des rheinischen Vorbildes vollständig um¬
gestaltet, später von Hassenpflug wieder verschlechtert, und im Jahre 1863
durch Erlaß einer umfassenden Proceßordnung neu geregelt worden. Dadurch
wurden jene Verunstaltungen wieder entfernt und dazu die Erfahrungen be¬
nutzt, die man seitdem in Deutschland nach der Einführung des mündlichen
öffentlichen Verfahrens gemacht hatte. Minder befriedigend war freilich der
Zustand des materiellen Strafrechts, das die Carolina zur formellen Grund¬
lage hatte, dagegen in Wahrheit zum größten Theile auf der Praxis der Ge¬
richte und auf einer zahllosen Reihe von Speeialgesetzen aus den verschiedensten
Entwickelungsstufen der Volkswirthschaft und des öffentlichen Lebens be¬
ruhte und schon lange einer Umgestaltung dringend bedürftig gewesen war.


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[0495] dem Bürger auch das Recht, wo er mit den Verwaltungsbehörden in Aus¬ übung öffentlich-rechtlicher Functionen in Conflikt gerieth. Der oberste Gerichtshof in Cassel genoß eines weit über die Grenzen seines kleinen Rechtsgebietes hinausgehenden Rufes der Tüchtigkeit. Auch an ihm war freilich die Hassenpflug-Vilmarsche Mißregierung nicht spurlos vorübergegangen. Man hatte Männer zu seinen Mitgliedern gemacht, die nicht als bedeutende Juristen, sondern in erster Linie nur als gesinnungstüchtige Anhänger des zeitweiligen Regimes galten. Doch selbst auf diese wirkte die Tradition des Gerichtshofes assimilirend und fördernd ein, so daß es nach Wiederherstellung der Verfassung den vereinten Bestrebungen der Regierung und der Stände verhältnißmäßig leicht gelang, ihn nicht nur in dem alten Geiste wieder¬ herzustellen, sondern auch den Bedürfnissen des modernen Lebens entsprechend umzugestalten. Ein neues Gerichtsorganisationsgesetz vereinigte die Vortheile des Einzelrichterwesens und der collegialischen Behandlung. In den gering¬ fügigen, zur Competenz der Einzelrichter verwiesenen Strafsachen wurden den¬ selben Schöffen an die Seite gegeben, die wichtigeren Strafsachen aber zur Aburtheilung durch die Collegialgerichte bestimmt. Diese bildeten zugleich die zweite Instanz für die von den Einzelrichtern entschiedenen Sachen. Auch der Civilproceß war im Jahre 1863 durch Erlaß einer Novelle neu geordnet und dabei dem Princip der Mündlichkeit Rechnung getragen worden. An¬ gesichts der Bestrebungen um Herstellung einer allgemeinen deutschen Civil- proeeßgesetzgebung hielt man den Zeitpunkt nicht für gegeben, um selbst¬ ständig grundsätzliche Aenderungen des Rechtszustandes vorzunehmen. Unser Proceßverfahren war seitdem ein rasches und dabei doch der Gründlichkeit nicht entbehrendes. Wenn gleichwohl Klagen über Rechtsverschleppung gehört wurden, und bei Verlegung des Oberappellationsgerichts nach Berlin eine ganze Anzahl rückständiger Sachen hier vorgefunden wurde, so lag das weniger an den Einrichtungen als an Personen, die als Erbstücke der Hassen- pflugschen Reactionsperiode mit herübergekommen waren. Der Strafproceß war im Jahre 1848 auf Grund des rheinischen Vorbildes vollständig um¬ gestaltet, später von Hassenpflug wieder verschlechtert, und im Jahre 1863 durch Erlaß einer umfassenden Proceßordnung neu geregelt worden. Dadurch wurden jene Verunstaltungen wieder entfernt und dazu die Erfahrungen be¬ nutzt, die man seitdem in Deutschland nach der Einführung des mündlichen öffentlichen Verfahrens gemacht hatte. Minder befriedigend war freilich der Zustand des materiellen Strafrechts, das die Carolina zur formellen Grund¬ lage hatte, dagegen in Wahrheit zum größten Theile auf der Praxis der Ge¬ richte und auf einer zahllosen Reihe von Speeialgesetzen aus den verschiedensten Entwickelungsstufen der Volkswirthschaft und des öffentlichen Lebens be¬ ruhte und schon lange einer Umgestaltung dringend bedürftig gewesen war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/495>, abgerufen am 24.07.2024.