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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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ProvenMische Streit- und Nügeliedcr.

"Die ganze Christenheit, Juden und Sarazenen, Kaiser, Könige, Herzoge,
Grafen und Mcegrafen, Komthure, Vasallen und alle anderen Ritter, Priester,
Bürger und Bauern, Groß und Klein richten täglich ihren Sinn auf Singen
und Dichten, indem sie entweder selbst singen oder zuhören wollen. Kein
Ort ist so öde und entlegen, daß man, wenn nur Menschen ihn bewohnen,
nicht in ihm von Einzelnen, oder von Vielen gemeinsam singen hörte, und
selbst der Berghirten größte Freude ist Gesang. Alle guten und bösen
Dinge der Welt werden durch die Trobadors bekannt gemacht, und es gibt
keine üble Nachrede, welche ein Trobador einmal in Reim und Vers ge¬
bracht hätte, die nicht täglich wiederholt würde". Mit diesen Worten empfiehlt
der provenzalische Dichter Raimon Vidal sein gelehrtes Werk über die ra-los
as ti-vor, die Regeln der Dichtkunst und führt uns damit selbst in die
Sangesfluthen seiner liederbewegten Zeit. Wie er die unschuldige Freude
schildert, welche die heiteren Gesänge der Liebe Allen vom Herrn der Christen¬
heit bis hinab zum armen Hirten des fernen Gebirges erweckten, so weist
er in dem Schlüsse der angeführten Zeilen schon auf einen ernsten Beruf und
Einfluß der Liedcrkunst jener Tage hin. Wir besitzen Zeugnisse aus dem
Munde der hervorragendsten Trobadors. daß sie es als heilige Pflicht an¬
sahen, neben der Feier lieblicher Frauen ihre Kunst auch der Belehrung. An¬
spornung und der zürnenden Rüge zu weihen. Diesem ernsteren Berufe war
die eine Hauptgattung der provenzalischen Liedbildung das Sirventes*) ge-



") Eine genaue Bestimmung des Begriffes Sirventes möchte äußerst schwer zu geben sein.
Das Wort wird von dem lateinischen Berbum ssrvirs abgeleitet und durch "Lied eines Dienen¬
den etwa zum Lobe seines Herrn" zu übersetzt. Die "lez?" ä'amors," "die Gesetze der Liebe"
unter welchem pikanten Titel sich eine alte provenzalische Grammatik und Poetik verbirgt, nennen
Sirventes "ein Lied, welches Tadel und Rüge enthält und die Bösen und Thörichten züchtigt",
"auch -- fügen sie hinzu -- kann es von Kriegsthaten handeln". Spätere Poetiken bezeich¬
nen die im Dienste der Jungfrau Maria gedichteten Lieder als Serventese. Im Allgemeinen
ist darunter wohl jedes lyrische Gedicht zu verstehen, welches im Gegensatze zur Canzone nicht
erotischen Inhaltes ist, ohne daß damit eine nähere Abgrenzung der Form und dem Inhalte
"ach gegeben wäre. -- (Siiventes ist das Lied der Sarvicntc, derer, die den Kettenpanzer --
ahd. 8aravi -- tragen, also: Knegnlicd, Die Red)
Gmijboten II. I8>!!>, v
ProvenMische Streit- und Nügeliedcr.

„Die ganze Christenheit, Juden und Sarazenen, Kaiser, Könige, Herzoge,
Grafen und Mcegrafen, Komthure, Vasallen und alle anderen Ritter, Priester,
Bürger und Bauern, Groß und Klein richten täglich ihren Sinn auf Singen
und Dichten, indem sie entweder selbst singen oder zuhören wollen. Kein
Ort ist so öde und entlegen, daß man, wenn nur Menschen ihn bewohnen,
nicht in ihm von Einzelnen, oder von Vielen gemeinsam singen hörte, und
selbst der Berghirten größte Freude ist Gesang. Alle guten und bösen
Dinge der Welt werden durch die Trobadors bekannt gemacht, und es gibt
keine üble Nachrede, welche ein Trobador einmal in Reim und Vers ge¬
bracht hätte, die nicht täglich wiederholt würde". Mit diesen Worten empfiehlt
der provenzalische Dichter Raimon Vidal sein gelehrtes Werk über die ra-los
as ti-vor, die Regeln der Dichtkunst und führt uns damit selbst in die
Sangesfluthen seiner liederbewegten Zeit. Wie er die unschuldige Freude
schildert, welche die heiteren Gesänge der Liebe Allen vom Herrn der Christen¬
heit bis hinab zum armen Hirten des fernen Gebirges erweckten, so weist
er in dem Schlüsse der angeführten Zeilen schon auf einen ernsten Beruf und
Einfluß der Liedcrkunst jener Tage hin. Wir besitzen Zeugnisse aus dem
Munde der hervorragendsten Trobadors. daß sie es als heilige Pflicht an¬
sahen, neben der Feier lieblicher Frauen ihre Kunst auch der Belehrung. An¬
spornung und der zürnenden Rüge zu weihen. Diesem ernsteren Berufe war
die eine Hauptgattung der provenzalischen Liedbildung das Sirventes*) ge-



") Eine genaue Bestimmung des Begriffes Sirventes möchte äußerst schwer zu geben sein.
Das Wort wird von dem lateinischen Berbum ssrvirs abgeleitet und durch „Lied eines Dienen¬
den etwa zum Lobe seines Herrn" zu übersetzt. Die „lez?« ä'amors," „die Gesetze der Liebe"
unter welchem pikanten Titel sich eine alte provenzalische Grammatik und Poetik verbirgt, nennen
Sirventes „ein Lied, welches Tadel und Rüge enthält und die Bösen und Thörichten züchtigt",
„auch — fügen sie hinzu — kann es von Kriegsthaten handeln". Spätere Poetiken bezeich¬
nen die im Dienste der Jungfrau Maria gedichteten Lieder als Serventese. Im Allgemeinen
ist darunter wohl jedes lyrische Gedicht zu verstehen, welches im Gegensatze zur Canzone nicht
erotischen Inhaltes ist, ohne daß damit eine nähere Abgrenzung der Form und dem Inhalte
»ach gegeben wäre. — (Siiventes ist das Lied der Sarvicntc, derer, die den Kettenpanzer —
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[0049] ProvenMische Streit- und Nügeliedcr. „Die ganze Christenheit, Juden und Sarazenen, Kaiser, Könige, Herzoge, Grafen und Mcegrafen, Komthure, Vasallen und alle anderen Ritter, Priester, Bürger und Bauern, Groß und Klein richten täglich ihren Sinn auf Singen und Dichten, indem sie entweder selbst singen oder zuhören wollen. Kein Ort ist so öde und entlegen, daß man, wenn nur Menschen ihn bewohnen, nicht in ihm von Einzelnen, oder von Vielen gemeinsam singen hörte, und selbst der Berghirten größte Freude ist Gesang. Alle guten und bösen Dinge der Welt werden durch die Trobadors bekannt gemacht, und es gibt keine üble Nachrede, welche ein Trobador einmal in Reim und Vers ge¬ bracht hätte, die nicht täglich wiederholt würde". Mit diesen Worten empfiehlt der provenzalische Dichter Raimon Vidal sein gelehrtes Werk über die ra-los as ti-vor, die Regeln der Dichtkunst und führt uns damit selbst in die Sangesfluthen seiner liederbewegten Zeit. Wie er die unschuldige Freude schildert, welche die heiteren Gesänge der Liebe Allen vom Herrn der Christen¬ heit bis hinab zum armen Hirten des fernen Gebirges erweckten, so weist er in dem Schlüsse der angeführten Zeilen schon auf einen ernsten Beruf und Einfluß der Liedcrkunst jener Tage hin. Wir besitzen Zeugnisse aus dem Munde der hervorragendsten Trobadors. daß sie es als heilige Pflicht an¬ sahen, neben der Feier lieblicher Frauen ihre Kunst auch der Belehrung. An¬ spornung und der zürnenden Rüge zu weihen. Diesem ernsteren Berufe war die eine Hauptgattung der provenzalischen Liedbildung das Sirventes*) ge- ") Eine genaue Bestimmung des Begriffes Sirventes möchte äußerst schwer zu geben sein. Das Wort wird von dem lateinischen Berbum ssrvirs abgeleitet und durch „Lied eines Dienen¬ den etwa zum Lobe seines Herrn" zu übersetzt. Die „lez?« ä'amors," „die Gesetze der Liebe" unter welchem pikanten Titel sich eine alte provenzalische Grammatik und Poetik verbirgt, nennen Sirventes „ein Lied, welches Tadel und Rüge enthält und die Bösen und Thörichten züchtigt", „auch — fügen sie hinzu — kann es von Kriegsthaten handeln". Spätere Poetiken bezeich¬ nen die im Dienste der Jungfrau Maria gedichteten Lieder als Serventese. Im Allgemeinen ist darunter wohl jedes lyrische Gedicht zu verstehen, welches im Gegensatze zur Canzone nicht erotischen Inhaltes ist, ohne daß damit eine nähere Abgrenzung der Form und dem Inhalte »ach gegeben wäre. — (Siiventes ist das Lied der Sarvicntc, derer, die den Kettenpanzer — ahd. 8aravi — tragen, also: Knegnlicd, Die Red) Gmijboten II. I8>!!>, v

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/49>, abgerufen am 24.07.2024.