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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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welcher bei vorgeschrittenen Nationen nicht mehr zu denken wäre. Von
den Polen braucht man kaum zu sprechen. Wohin es mit der alten Schwär¬
merei für diese unglückliche Nation bei Allen denen gekommen ist, welche sie
aus unmittelbarer Berührung kennen, das haben zur Genüge die Verhand¬
lungen in den preußischen Kammern und im norddeutschen Reichstage be¬
wiesen. Und die Tschechen vollends haben ohne Gleichen das Talent, ihre
schlechten Eigenschaften in das grellste Licht zu stellen. Im Jahre 1866
wünschten die ärgsten Preußenhasser die Annexion Böhmens, damit beide
Theile gegenseitig gründlich gestraft würden. Diese Elemente derart zu ent¬
fesseln, daß auch Westösterreich aufhören würde, ein deutsches Staatswesen
mit allerlei fremden Bestandtheilen zu sein, die Deutschen in Böhmen den
Tschechen, die Ruthenen in Galizien den Polen preiszugeben, das ist ein Ge¬
danke, welcher freilich die allerernstesten Bedenken erregen muß.

Und daß es so kam, war keine Nothwendigkeit. Die centralistische
Partei dankt wie die östreichische Armee ihre Niederlagen schlechter Füh¬
rung. Und das schwerste Unglück für sie ist, daß die Frage, um welche es
sich vorzüglich handelt, nicht zur Entscheidung gekommen ist und wohl für
immer unerledigt bleiben wird. Jetzt gilt es für ausgemacht, daß die Ge-
sammtstaatsidee -- die parlamentarische Centralisation bei administrativer
Decentralisation-- gescheitert sei, während doch kein ernster Versuch gemacht
worden ist, sie lebendig zu machen. Hätte Bach um die Mitte der fünfziger
Jahre es über sich vermocht, dem Reiche nur so viel Parlamentarismus und
Selbstverwaltung zu gewähren, als das Diplom vom October 1860 anbot;
mit Ausnahme Lombards-Venetiens hätten alle Kronländer dankbarst zu¬
gegriffen, vielleicht auch Ungarn. Hätte Schmerling im Jahre 1861 gewagt,
die nichtmagyarischen Völkerschaften Ungarns in den Reichsrath zu berufen,
es stände heute auch um die Magyaren anders. Aber der Staatsmann,
welchen man mit Benedeck verglichen hat, hätte noch viel mehr ein Kriegs¬
gericht verdient, als der "Schmerling zu Pferde"; er ließ nicht allein den
Feind alle strategisch wichtigen Punkte besetzen, sondern rechnete noch auf
dessen freiwillige Unterwerfung, als er und die Seinen schon völlig umzingelt
waren. Belcredi hat sich dann durch seine kindische Furcht vor dem Reichsrath
und den Deutschen um die einzigen zuverlässigen Bundesgenossen gebracht,
mit denen er seinen Kampf gegen den Dualismus hätte führen können. Und
als Beust ans Ruder kam, war nichts mehr zu thun als nachzugeben.

Auch in den Verfassungskämpfen sind wir bisher stets um eine Idee
zurückgeblieben, und nun muß es sich zeigen, ob die gegenwärtigen Lenker
der inneren Politik aus der seit zwanzig Jahren so oft wiederholten Ge¬
schichte von den sioyllinischen Büchern etwas gelernt, oder ob sie das ver-
hängnißvolle Selbstgefühl ihrer Vorgänger geerbt haben. In den Reihen


welcher bei vorgeschrittenen Nationen nicht mehr zu denken wäre. Von
den Polen braucht man kaum zu sprechen. Wohin es mit der alten Schwär¬
merei für diese unglückliche Nation bei Allen denen gekommen ist, welche sie
aus unmittelbarer Berührung kennen, das haben zur Genüge die Verhand¬
lungen in den preußischen Kammern und im norddeutschen Reichstage be¬
wiesen. Und die Tschechen vollends haben ohne Gleichen das Talent, ihre
schlechten Eigenschaften in das grellste Licht zu stellen. Im Jahre 1866
wünschten die ärgsten Preußenhasser die Annexion Böhmens, damit beide
Theile gegenseitig gründlich gestraft würden. Diese Elemente derart zu ent¬
fesseln, daß auch Westösterreich aufhören würde, ein deutsches Staatswesen
mit allerlei fremden Bestandtheilen zu sein, die Deutschen in Böhmen den
Tschechen, die Ruthenen in Galizien den Polen preiszugeben, das ist ein Ge¬
danke, welcher freilich die allerernstesten Bedenken erregen muß.

Und daß es so kam, war keine Nothwendigkeit. Die centralistische
Partei dankt wie die östreichische Armee ihre Niederlagen schlechter Füh¬
rung. Und das schwerste Unglück für sie ist, daß die Frage, um welche es
sich vorzüglich handelt, nicht zur Entscheidung gekommen ist und wohl für
immer unerledigt bleiben wird. Jetzt gilt es für ausgemacht, daß die Ge-
sammtstaatsidee — die parlamentarische Centralisation bei administrativer
Decentralisation— gescheitert sei, während doch kein ernster Versuch gemacht
worden ist, sie lebendig zu machen. Hätte Bach um die Mitte der fünfziger
Jahre es über sich vermocht, dem Reiche nur so viel Parlamentarismus und
Selbstverwaltung zu gewähren, als das Diplom vom October 1860 anbot;
mit Ausnahme Lombards-Venetiens hätten alle Kronländer dankbarst zu¬
gegriffen, vielleicht auch Ungarn. Hätte Schmerling im Jahre 1861 gewagt,
die nichtmagyarischen Völkerschaften Ungarns in den Reichsrath zu berufen,
es stände heute auch um die Magyaren anders. Aber der Staatsmann,
welchen man mit Benedeck verglichen hat, hätte noch viel mehr ein Kriegs¬
gericht verdient, als der „Schmerling zu Pferde"; er ließ nicht allein den
Feind alle strategisch wichtigen Punkte besetzen, sondern rechnete noch auf
dessen freiwillige Unterwerfung, als er und die Seinen schon völlig umzingelt
waren. Belcredi hat sich dann durch seine kindische Furcht vor dem Reichsrath
und den Deutschen um die einzigen zuverlässigen Bundesgenossen gebracht,
mit denen er seinen Kampf gegen den Dualismus hätte führen können. Und
als Beust ans Ruder kam, war nichts mehr zu thun als nachzugeben.

Auch in den Verfassungskämpfen sind wir bisher stets um eine Idee
zurückgeblieben, und nun muß es sich zeigen, ob die gegenwärtigen Lenker
der inneren Politik aus der seit zwanzig Jahren so oft wiederholten Ge¬
schichte von den sioyllinischen Büchern etwas gelernt, oder ob sie das ver-
hängnißvolle Selbstgefühl ihrer Vorgänger geerbt haben. In den Reihen


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[0386] welcher bei vorgeschrittenen Nationen nicht mehr zu denken wäre. Von den Polen braucht man kaum zu sprechen. Wohin es mit der alten Schwär¬ merei für diese unglückliche Nation bei Allen denen gekommen ist, welche sie aus unmittelbarer Berührung kennen, das haben zur Genüge die Verhand¬ lungen in den preußischen Kammern und im norddeutschen Reichstage be¬ wiesen. Und die Tschechen vollends haben ohne Gleichen das Talent, ihre schlechten Eigenschaften in das grellste Licht zu stellen. Im Jahre 1866 wünschten die ärgsten Preußenhasser die Annexion Böhmens, damit beide Theile gegenseitig gründlich gestraft würden. Diese Elemente derart zu ent¬ fesseln, daß auch Westösterreich aufhören würde, ein deutsches Staatswesen mit allerlei fremden Bestandtheilen zu sein, die Deutschen in Böhmen den Tschechen, die Ruthenen in Galizien den Polen preiszugeben, das ist ein Ge¬ danke, welcher freilich die allerernstesten Bedenken erregen muß. Und daß es so kam, war keine Nothwendigkeit. Die centralistische Partei dankt wie die östreichische Armee ihre Niederlagen schlechter Füh¬ rung. Und das schwerste Unglück für sie ist, daß die Frage, um welche es sich vorzüglich handelt, nicht zur Entscheidung gekommen ist und wohl für immer unerledigt bleiben wird. Jetzt gilt es für ausgemacht, daß die Ge- sammtstaatsidee — die parlamentarische Centralisation bei administrativer Decentralisation— gescheitert sei, während doch kein ernster Versuch gemacht worden ist, sie lebendig zu machen. Hätte Bach um die Mitte der fünfziger Jahre es über sich vermocht, dem Reiche nur so viel Parlamentarismus und Selbstverwaltung zu gewähren, als das Diplom vom October 1860 anbot; mit Ausnahme Lombards-Venetiens hätten alle Kronländer dankbarst zu¬ gegriffen, vielleicht auch Ungarn. Hätte Schmerling im Jahre 1861 gewagt, die nichtmagyarischen Völkerschaften Ungarns in den Reichsrath zu berufen, es stände heute auch um die Magyaren anders. Aber der Staatsmann, welchen man mit Benedeck verglichen hat, hätte noch viel mehr ein Kriegs¬ gericht verdient, als der „Schmerling zu Pferde"; er ließ nicht allein den Feind alle strategisch wichtigen Punkte besetzen, sondern rechnete noch auf dessen freiwillige Unterwerfung, als er und die Seinen schon völlig umzingelt waren. Belcredi hat sich dann durch seine kindische Furcht vor dem Reichsrath und den Deutschen um die einzigen zuverlässigen Bundesgenossen gebracht, mit denen er seinen Kampf gegen den Dualismus hätte führen können. Und als Beust ans Ruder kam, war nichts mehr zu thun als nachzugeben. Auch in den Verfassungskämpfen sind wir bisher stets um eine Idee zurückgeblieben, und nun muß es sich zeigen, ob die gegenwärtigen Lenker der inneren Politik aus der seit zwanzig Jahren so oft wiederholten Ge¬ schichte von den sioyllinischen Büchern etwas gelernt, oder ob sie das ver- hängnißvolle Selbstgefühl ihrer Vorgänger geerbt haben. In den Reihen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/386>, abgerufen am 24.07.2024.