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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Publicum nicht im Stande ist ein Musikstückchen als Ganzes zu genießen,
sondern lieber die "schönen Stellen" herausfischt, wie" der Franzose die
Zranäs mots!

Schlimmer noch ist die Richtung, die der Programmmusik huldigt; schwarz
auf weiß wollen die Leute gedruckt lesen, was die Musik, die sie hören, bedeuten
und sagen will: mit aller Gewalt soll etwas ganz Bestimmtes hineingeheim--
mißt sein, das zu entdecken die Aufgabe des Musikverständigen ist. Die Pro¬
gramme weisen oft die lächerlichsten Erklärungen auf. so soll z. B. Mendelssohn's
reizendes Tonmärchen, die Ouvertüre zur schönen Melusine, durch folgende
Faselei erklärt werden: Nelnsins, äou6s Ä'une Zranäe beaute, dsvait a
certains ^ours se trÄnskorwer en serpent, et toutes les lois qu'un malneur
mena-zg.it la, kamillö as I^usiZn^n, eile appg.rg.issa.it sur la tour 6u enateau I
Der Schluß der Tannhäuserouverture bedeutet: I<z cdavt va-Zue ach Li-
rönes, Is, vie Mal-Ziielle <lui Sö Mut aux emanes Ah 1'ame pour enantör 1a
louÄN-zö an (ürsateurl ^Begreife wer kann! Hätte doch Beethoven seine un¬
seligen Ueberschriften zur Pastorale nicht geschrieben! Die Symphonie hätte
ebenso unmittelbar genossen und verstanden werden können, und der späteren
Kritik, die ohnedies so viel unter dem wuchernden Unkraut zu räumen hat,
wäre die Mühe erspart worden, diese unmusikalischen Klügeleien der moder¬
nen literarischen Musikschule zu bekämpfen. Denn alle gehen doch nur von
der Pastorale aus.

Daß ein solches Publicum sich noch kein selbständiges Urtheil gebildet
haben kann, ist ganz natürlich. Zwar hat sich eine Partei vorgenommen.
Alles, was zum ersten Male erscheint, consequent auszupfeifen, und diese Herren
machen sich auch recht laut bemerkbar; aber meist bleibt es nach einer ersten
Aufführung ganz still. Ehe gedruckt steht: das Werk ist gut, will sich Nie¬
mand durch unzeitige Kundgebung seiner Meinung compromittiren und durch
verfrühtes.Klatschen das Gelächter seiner Nachbarn erregen.

Lobenswert!) dagegen sind die Fortschritte, die in der Würdigung
R. Schumann's gemacht worden sind. Die stolz und frisch einherschreitende
L-cinr Symphonie erfreut sich eines offenen ungeteilten Beifalls, und auch
die anderen Werke des tiefsinnigen, eigenwilligen und daher schwer verständ¬
lichen Meisters erfahren nach und nach eine gerechtere Beurtheilung.

Mendelssohn ist einer der ausgesprochenen Lieblinge des Publicums,
seine hochromantische ^.-moll Symphonie ist allgemein bekannt und beliebt.
Leider sind seine Meisterwerke, Elias und Paulus, hier selten gehört worden,
wie überhaupt die Kirchenmusik, katholische wie protestantische, arg vernach¬
lässigt wird. Mit der nachgelassenen Reformationssymphonie hat Pasdeloup
nicht versäumt uns bekannt zu machen; wenn das Urtheil über einen Künstler
so fest steht wie über Mendelssohn, so darf man es schon wagen, selbst


Publicum nicht im Stande ist ein Musikstückchen als Ganzes zu genießen,
sondern lieber die „schönen Stellen" herausfischt, wie» der Franzose die
Zranäs mots!

Schlimmer noch ist die Richtung, die der Programmmusik huldigt; schwarz
auf weiß wollen die Leute gedruckt lesen, was die Musik, die sie hören, bedeuten
und sagen will: mit aller Gewalt soll etwas ganz Bestimmtes hineingeheim--
mißt sein, das zu entdecken die Aufgabe des Musikverständigen ist. Die Pro¬
gramme weisen oft die lächerlichsten Erklärungen auf. so soll z. B. Mendelssohn's
reizendes Tonmärchen, die Ouvertüre zur schönen Melusine, durch folgende
Faselei erklärt werden: Nelnsins, äou6s Ä'une Zranäe beaute, dsvait a
certains ^ours se trÄnskorwer en serpent, et toutes les lois qu'un malneur
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Der Schluß der Tannhäuserouverture bedeutet: I<z cdavt va-Zue ach Li-
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seligen Ueberschriften zur Pastorale nicht geschrieben! Die Symphonie hätte
ebenso unmittelbar genossen und verstanden werden können, und der späteren
Kritik, die ohnedies so viel unter dem wuchernden Unkraut zu räumen hat,
wäre die Mühe erspart worden, diese unmusikalischen Klügeleien der moder¬
nen literarischen Musikschule zu bekämpfen. Denn alle gehen doch nur von
der Pastorale aus.

Daß ein solches Publicum sich noch kein selbständiges Urtheil gebildet
haben kann, ist ganz natürlich. Zwar hat sich eine Partei vorgenommen.
Alles, was zum ersten Male erscheint, consequent auszupfeifen, und diese Herren
machen sich auch recht laut bemerkbar; aber meist bleibt es nach einer ersten
Aufführung ganz still. Ehe gedruckt steht: das Werk ist gut, will sich Nie¬
mand durch unzeitige Kundgebung seiner Meinung compromittiren und durch
verfrühtes.Klatschen das Gelächter seiner Nachbarn erregen.

Lobenswert!) dagegen sind die Fortschritte, die in der Würdigung
R. Schumann's gemacht worden sind. Die stolz und frisch einherschreitende
L-cinr Symphonie erfreut sich eines offenen ungeteilten Beifalls, und auch
die anderen Werke des tiefsinnigen, eigenwilligen und daher schwer verständ¬
lichen Meisters erfahren nach und nach eine gerechtere Beurtheilung.

Mendelssohn ist einer der ausgesprochenen Lieblinge des Publicums,
seine hochromantische ^.-moll Symphonie ist allgemein bekannt und beliebt.
Leider sind seine Meisterwerke, Elias und Paulus, hier selten gehört worden,
wie überhaupt die Kirchenmusik, katholische wie protestantische, arg vernach¬
lässigt wird. Mit der nachgelassenen Reformationssymphonie hat Pasdeloup
nicht versäumt uns bekannt zu machen; wenn das Urtheil über einen Künstler
so fest steht wie über Mendelssohn, so darf man es schon wagen, selbst


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[0376] Publicum nicht im Stande ist ein Musikstückchen als Ganzes zu genießen, sondern lieber die „schönen Stellen" herausfischt, wie» der Franzose die Zranäs mots! Schlimmer noch ist die Richtung, die der Programmmusik huldigt; schwarz auf weiß wollen die Leute gedruckt lesen, was die Musik, die sie hören, bedeuten und sagen will: mit aller Gewalt soll etwas ganz Bestimmtes hineingeheim-- mißt sein, das zu entdecken die Aufgabe des Musikverständigen ist. Die Pro¬ gramme weisen oft die lächerlichsten Erklärungen auf. so soll z. B. Mendelssohn's reizendes Tonmärchen, die Ouvertüre zur schönen Melusine, durch folgende Faselei erklärt werden: Nelnsins, äou6s Ä'une Zranäe beaute, dsvait a certains ^ours se trÄnskorwer en serpent, et toutes les lois qu'un malneur mena-zg.it la, kamillö as I^usiZn^n, eile appg.rg.issa.it sur la tour 6u enateau I Der Schluß der Tannhäuserouverture bedeutet: I<z cdavt va-Zue ach Li- rönes, Is, vie Mal-Ziielle <lui Sö Mut aux emanes Ah 1'ame pour enantör 1a louÄN-zö an (ürsateurl ^Begreife wer kann! Hätte doch Beethoven seine un¬ seligen Ueberschriften zur Pastorale nicht geschrieben! Die Symphonie hätte ebenso unmittelbar genossen und verstanden werden können, und der späteren Kritik, die ohnedies so viel unter dem wuchernden Unkraut zu räumen hat, wäre die Mühe erspart worden, diese unmusikalischen Klügeleien der moder¬ nen literarischen Musikschule zu bekämpfen. Denn alle gehen doch nur von der Pastorale aus. Daß ein solches Publicum sich noch kein selbständiges Urtheil gebildet haben kann, ist ganz natürlich. Zwar hat sich eine Partei vorgenommen. Alles, was zum ersten Male erscheint, consequent auszupfeifen, und diese Herren machen sich auch recht laut bemerkbar; aber meist bleibt es nach einer ersten Aufführung ganz still. Ehe gedruckt steht: das Werk ist gut, will sich Nie¬ mand durch unzeitige Kundgebung seiner Meinung compromittiren und durch verfrühtes.Klatschen das Gelächter seiner Nachbarn erregen. Lobenswert!) dagegen sind die Fortschritte, die in der Würdigung R. Schumann's gemacht worden sind. Die stolz und frisch einherschreitende L-cinr Symphonie erfreut sich eines offenen ungeteilten Beifalls, und auch die anderen Werke des tiefsinnigen, eigenwilligen und daher schwer verständ¬ lichen Meisters erfahren nach und nach eine gerechtere Beurtheilung. Mendelssohn ist einer der ausgesprochenen Lieblinge des Publicums, seine hochromantische ^.-moll Symphonie ist allgemein bekannt und beliebt. Leider sind seine Meisterwerke, Elias und Paulus, hier selten gehört worden, wie überhaupt die Kirchenmusik, katholische wie protestantische, arg vernach¬ lässigt wird. Mit der nachgelassenen Reformationssymphonie hat Pasdeloup nicht versäumt uns bekannt zu machen; wenn das Urtheil über einen Künstler so fest steht wie über Mendelssohn, so darf man es schon wagen, selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/376>, abgerufen am 24.07.2024.