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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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unruhige französische Naturel Rücksicht nehmen, wie still, wie aufmerksam,
ja wie andächtig die zahlreiche Versammlung den Tönen unserer Meister
lauscht. Wer hierher gekommen ist, der will Musik hören. Das Publicum,
das ins Theater geht, um einer "Diva" den Hof zu machen oder um eine
glänzende Toilette zur Schau zu tragen, das verläßt nicht so früh den Früh-
stückstisch, um nach dem vom Mittelpunkt des "eleganten" Treibens abgelege¬
nen Lii'^us Napoleon zu fahren; bei Pasdeloup finden wir keine gelang¬
weilten Müssiggänger, die nur ihre Zeit todtschlagen wollen: Jeder ist Feuer
und Flamme für seine Musik, ganz bei seiner Kunst. Diese laut sich kund¬
gebende Begeisterung der dankbaren Zuhörer ist allerdings sowohl für den
Dirigenten als für die einzelnen auftretenden Künstler ermuthigend und wohl¬
thuend; sie führt manchmal zu großartigen Ovationen, so bei Joachim's Vor¬
trägen im letzten Winter, so dies Jahr bei der Aufführung von Rossini's
Ouvertüre zu Wilhelm Tell, kurz nach dem Tode des greisen maestro: die
ganze Versammlung und die Musiker des Orchesters erhoben sich wie ein
Mann, und der Beifall wollte kein Ende nehmen.

Wenn wir hiermit dem Publicum die größte Liebe zur Sache und eine sehr
starke Dosis des besten Willens zuerkannt haben, so ist damit gewiß sehr
viel Lob ausgesprochen; aber es ist auch Alles erschöpft, was wir ihm Gutes
nachsagen können. Trotz der jahrelangen Arbeit ist es im Großen und Ganzen
noch recht ungebildet, und namentlich fehlt es ihm noch an jeder Unter¬
scheidungsgabe: wir sagten oben, der Franzose liebe Alles was klingt; das
bewahrheitet sich auch hier. Ein höchst unbedeutender, aber pikant instru-
mentirter Balletwalzer aus Gounot's Königin von Saba wird unmittelbar
nach einer Beethoven'schen Symphonie da eapo verlangt! Meyerbeer's Polo¬
naise aus Struensee erregt denselben Beifall wie die Zauberflöten- oder
Leonorenouverture! Ueberhaupt, wer sich an Meyerbeer's hochheiliger Ma¬
jestät frevelnd vergreift -- gegen den Unvorsichtigen wird das drohende
"Steiniget ihn" von den empörten fanatischen Anhängern des größten Effeet-
machers ausgerufen!

Effect! Das ist das Zauberwort, das nie seine Wirkung verfehlt, dem
Alle folgen. Die Franzosen sind darin viel toleranter als wir, daß sie eine
mittelmäßige, ja ganz schwache Composttion gern hinnehmen, wenn sie nur
brillant ausgeführt wird. Am auffallendsten ist dies bei den Solovorträgen,
zu denen das Publicum eine, bei der französischen Neigung zum Virtuosen-
thum natürliche Vorliebe hat; es ist unglaublich, welche Albernheiten es sich
gefallen läßt, und mit welchem enthusiastischen Beifall eine glänzende Passage
belohnt wird. Daß dabei die armen Tutti zum Opfer fallen müssen, ist
selbstverständlich. Kenne ich doch eine Stadt im lieben Deutschland, wo sehr
viel Musiksinn herrscht, das Musikleben sehr ausgebildet ist, wo aber das


unruhige französische Naturel Rücksicht nehmen, wie still, wie aufmerksam,
ja wie andächtig die zahlreiche Versammlung den Tönen unserer Meister
lauscht. Wer hierher gekommen ist, der will Musik hören. Das Publicum,
das ins Theater geht, um einer „Diva" den Hof zu machen oder um eine
glänzende Toilette zur Schau zu tragen, das verläßt nicht so früh den Früh-
stückstisch, um nach dem vom Mittelpunkt des „eleganten" Treibens abgelege¬
nen Lii'^us Napoleon zu fahren; bei Pasdeloup finden wir keine gelang¬
weilten Müssiggänger, die nur ihre Zeit todtschlagen wollen: Jeder ist Feuer
und Flamme für seine Musik, ganz bei seiner Kunst. Diese laut sich kund¬
gebende Begeisterung der dankbaren Zuhörer ist allerdings sowohl für den
Dirigenten als für die einzelnen auftretenden Künstler ermuthigend und wohl¬
thuend; sie führt manchmal zu großartigen Ovationen, so bei Joachim's Vor¬
trägen im letzten Winter, so dies Jahr bei der Aufführung von Rossini's
Ouvertüre zu Wilhelm Tell, kurz nach dem Tode des greisen maestro: die
ganze Versammlung und die Musiker des Orchesters erhoben sich wie ein
Mann, und der Beifall wollte kein Ende nehmen.

Wenn wir hiermit dem Publicum die größte Liebe zur Sache und eine sehr
starke Dosis des besten Willens zuerkannt haben, so ist damit gewiß sehr
viel Lob ausgesprochen; aber es ist auch Alles erschöpft, was wir ihm Gutes
nachsagen können. Trotz der jahrelangen Arbeit ist es im Großen und Ganzen
noch recht ungebildet, und namentlich fehlt es ihm noch an jeder Unter¬
scheidungsgabe: wir sagten oben, der Franzose liebe Alles was klingt; das
bewahrheitet sich auch hier. Ein höchst unbedeutender, aber pikant instru-
mentirter Balletwalzer aus Gounot's Königin von Saba wird unmittelbar
nach einer Beethoven'schen Symphonie da eapo verlangt! Meyerbeer's Polo¬
naise aus Struensee erregt denselben Beifall wie die Zauberflöten- oder
Leonorenouverture! Ueberhaupt, wer sich an Meyerbeer's hochheiliger Ma¬
jestät frevelnd vergreift — gegen den Unvorsichtigen wird das drohende
„Steiniget ihn" von den empörten fanatischen Anhängern des größten Effeet-
machers ausgerufen!

Effect! Das ist das Zauberwort, das nie seine Wirkung verfehlt, dem
Alle folgen. Die Franzosen sind darin viel toleranter als wir, daß sie eine
mittelmäßige, ja ganz schwache Composttion gern hinnehmen, wenn sie nur
brillant ausgeführt wird. Am auffallendsten ist dies bei den Solovorträgen,
zu denen das Publicum eine, bei der französischen Neigung zum Virtuosen-
thum natürliche Vorliebe hat; es ist unglaublich, welche Albernheiten es sich
gefallen läßt, und mit welchem enthusiastischen Beifall eine glänzende Passage
belohnt wird. Daß dabei die armen Tutti zum Opfer fallen müssen, ist
selbstverständlich. Kenne ich doch eine Stadt im lieben Deutschland, wo sehr
viel Musiksinn herrscht, das Musikleben sehr ausgebildet ist, wo aber das


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[0375] unruhige französische Naturel Rücksicht nehmen, wie still, wie aufmerksam, ja wie andächtig die zahlreiche Versammlung den Tönen unserer Meister lauscht. Wer hierher gekommen ist, der will Musik hören. Das Publicum, das ins Theater geht, um einer „Diva" den Hof zu machen oder um eine glänzende Toilette zur Schau zu tragen, das verläßt nicht so früh den Früh- stückstisch, um nach dem vom Mittelpunkt des „eleganten" Treibens abgelege¬ nen Lii'^us Napoleon zu fahren; bei Pasdeloup finden wir keine gelang¬ weilten Müssiggänger, die nur ihre Zeit todtschlagen wollen: Jeder ist Feuer und Flamme für seine Musik, ganz bei seiner Kunst. Diese laut sich kund¬ gebende Begeisterung der dankbaren Zuhörer ist allerdings sowohl für den Dirigenten als für die einzelnen auftretenden Künstler ermuthigend und wohl¬ thuend; sie führt manchmal zu großartigen Ovationen, so bei Joachim's Vor¬ trägen im letzten Winter, so dies Jahr bei der Aufführung von Rossini's Ouvertüre zu Wilhelm Tell, kurz nach dem Tode des greisen maestro: die ganze Versammlung und die Musiker des Orchesters erhoben sich wie ein Mann, und der Beifall wollte kein Ende nehmen. Wenn wir hiermit dem Publicum die größte Liebe zur Sache und eine sehr starke Dosis des besten Willens zuerkannt haben, so ist damit gewiß sehr viel Lob ausgesprochen; aber es ist auch Alles erschöpft, was wir ihm Gutes nachsagen können. Trotz der jahrelangen Arbeit ist es im Großen und Ganzen noch recht ungebildet, und namentlich fehlt es ihm noch an jeder Unter¬ scheidungsgabe: wir sagten oben, der Franzose liebe Alles was klingt; das bewahrheitet sich auch hier. Ein höchst unbedeutender, aber pikant instru- mentirter Balletwalzer aus Gounot's Königin von Saba wird unmittelbar nach einer Beethoven'schen Symphonie da eapo verlangt! Meyerbeer's Polo¬ naise aus Struensee erregt denselben Beifall wie die Zauberflöten- oder Leonorenouverture! Ueberhaupt, wer sich an Meyerbeer's hochheiliger Ma¬ jestät frevelnd vergreift — gegen den Unvorsichtigen wird das drohende „Steiniget ihn" von den empörten fanatischen Anhängern des größten Effeet- machers ausgerufen! Effect! Das ist das Zauberwort, das nie seine Wirkung verfehlt, dem Alle folgen. Die Franzosen sind darin viel toleranter als wir, daß sie eine mittelmäßige, ja ganz schwache Composttion gern hinnehmen, wenn sie nur brillant ausgeführt wird. Am auffallendsten ist dies bei den Solovorträgen, zu denen das Publicum eine, bei der französischen Neigung zum Virtuosen- thum natürliche Vorliebe hat; es ist unglaublich, welche Albernheiten es sich gefallen läßt, und mit welchem enthusiastischen Beifall eine glänzende Passage belohnt wird. Daß dabei die armen Tutti zum Opfer fallen müssen, ist selbstverständlich. Kenne ich doch eine Stadt im lieben Deutschland, wo sehr viel Musiksinn herrscht, das Musikleben sehr ausgebildet ist, wo aber das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/375>, abgerufen am 24.07.2024.