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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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wurde bekanntlich zuvor in Pest und Eisenach gegeben; erst hier aber sollte
es die eigentliche Weihe erhalten, obwohl der Componist sein Werk anfangs
etwas vornehm den Wienern vorenthalten hatte. Die Wiener jedoch nahmen
edle Rache und erdrückten den geistlichen Herrn mit Ehrenbezeugungen aller
Art. Im Hinblick auf seine bisherigen Compositionen muß man zugestehen,
daß Liszt seine eigenthümliche Schreibweise so viel wie möglich in besserem
Sinne gemildert hat. Das Werk hat unleugbare Schönheiten, obenan die
meisten Chöre. Auch die Orchestration zeigt eine Fülle geistreicher Einzel¬
heiten. Die eigentliche melodische Erfindung geht nun freilich nicht Hand in
Hand mit diesen Vorzügen. Am wenigsten findet sich der Componist mit
dem Sologesang zurecht; die ariosen Recitative ermüden nicht wenig. Der
Behelf, der Charakteristik jeder einzelnen Person mit sogenannten Leitmotiven
nachzuhelfen, wirkt fast komisch und erinnert an den Portier, der gewissen¬
haft Herrn H. und Frau N- ankündigt. Man hat allgemein die erste Ab¬
theilung als die bedeutendere hervorgehoben, doch enthält auch die zweite
Hälfte viel Schönes, das bei der zweiten gekürzten Ausführung auch mehr zur
Geltung kam. Liszt hat alle Ursache, mit der hiesigen Ausführung zufrieden
zu sein. Chor und Orchester unter Herbeck's energischer Führung leisteten
Vorzügliches und auch die Solisten (die Damen Ehnn und Gindele, die
Herren v. Bignio und Kraus) entledigten sich ihrer meist unerquicklichen Auf¬
gabe mit wahrer Aufopferung. -- Die Gesellschaft hofft schon ihre nächste
Saison im neuerbauten Haus eröffnen zu können. Mit der gleichzeitigen Ueber-
siedelung des Conservatoriums dahin beginnt gleichsam eine neue Aera für
eine Anstalt, die durch Privatmittel gegründet und mit vielen Opfern bis
heute erhalten wurde. Wohl wäre es schon längst Pflicht des Staates ge¬
wesen, eine Anstalt, die so tief in alle Kreise eingreift -- in Kirche, Concert
und Theater, in Schule und Haus -- unter seinen unmittelbaren Schutz zu
nehmen. Durch den Bau des neuen Hauses ist die Anstalt nun wenigstens
dem jahraus verschleppten Universitätsbau zuvorgekommen.

Die philharmonischen Concerte boten viel Anregendes. Beethoven, die
Säule jeder Orchesterproduction, war mit den Sinfonien Ur. 4. 6. u. 8 ver¬
treten. Eine neue Sinfonie (H-moII) von Esser sprach durch die fleißige
Detailarbeit an; Volkmann's v-moll-Sinfonie nahm sich etwas herb aus;
Liszt's Pre'indes wurden besonders sorgfältig wiedergegeben; die hier zum
erstenmal aufgeführte Oxford-Sinfonie von Haydn (Partitur bei Rieter-Bieder¬
mann) fand in allen Theilen enthusiastische Aufnahme. Gern gehörte Be¬
kannte waren die Sinfonien L-aur von Schumann, ^,-molI von Mendels¬
sohn, Odur von Schubert. Von Ouvertüren sind Beethoven's Leonore
Ur. 2 und Wagner's Faust-Ouverture zu erwähnen. Drei Clavierconcerte
wurden, jedes in seiner Art vortrefflich ausgeführt. Mit Liszt's Ls-aur


wurde bekanntlich zuvor in Pest und Eisenach gegeben; erst hier aber sollte
es die eigentliche Weihe erhalten, obwohl der Componist sein Werk anfangs
etwas vornehm den Wienern vorenthalten hatte. Die Wiener jedoch nahmen
edle Rache und erdrückten den geistlichen Herrn mit Ehrenbezeugungen aller
Art. Im Hinblick auf seine bisherigen Compositionen muß man zugestehen,
daß Liszt seine eigenthümliche Schreibweise so viel wie möglich in besserem
Sinne gemildert hat. Das Werk hat unleugbare Schönheiten, obenan die
meisten Chöre. Auch die Orchestration zeigt eine Fülle geistreicher Einzel¬
heiten. Die eigentliche melodische Erfindung geht nun freilich nicht Hand in
Hand mit diesen Vorzügen. Am wenigsten findet sich der Componist mit
dem Sologesang zurecht; die ariosen Recitative ermüden nicht wenig. Der
Behelf, der Charakteristik jeder einzelnen Person mit sogenannten Leitmotiven
nachzuhelfen, wirkt fast komisch und erinnert an den Portier, der gewissen¬
haft Herrn H. und Frau N- ankündigt. Man hat allgemein die erste Ab¬
theilung als die bedeutendere hervorgehoben, doch enthält auch die zweite
Hälfte viel Schönes, das bei der zweiten gekürzten Ausführung auch mehr zur
Geltung kam. Liszt hat alle Ursache, mit der hiesigen Ausführung zufrieden
zu sein. Chor und Orchester unter Herbeck's energischer Führung leisteten
Vorzügliches und auch die Solisten (die Damen Ehnn und Gindele, die
Herren v. Bignio und Kraus) entledigten sich ihrer meist unerquicklichen Auf¬
gabe mit wahrer Aufopferung. — Die Gesellschaft hofft schon ihre nächste
Saison im neuerbauten Haus eröffnen zu können. Mit der gleichzeitigen Ueber-
siedelung des Conservatoriums dahin beginnt gleichsam eine neue Aera für
eine Anstalt, die durch Privatmittel gegründet und mit vielen Opfern bis
heute erhalten wurde. Wohl wäre es schon längst Pflicht des Staates ge¬
wesen, eine Anstalt, die so tief in alle Kreise eingreift — in Kirche, Concert
und Theater, in Schule und Haus — unter seinen unmittelbaren Schutz zu
nehmen. Durch den Bau des neuen Hauses ist die Anstalt nun wenigstens
dem jahraus verschleppten Universitätsbau zuvorgekommen.

Die philharmonischen Concerte boten viel Anregendes. Beethoven, die
Säule jeder Orchesterproduction, war mit den Sinfonien Ur. 4. 6. u. 8 ver¬
treten. Eine neue Sinfonie (H-moII) von Esser sprach durch die fleißige
Detailarbeit an; Volkmann's v-moll-Sinfonie nahm sich etwas herb aus;
Liszt's Pre'indes wurden besonders sorgfältig wiedergegeben; die hier zum
erstenmal aufgeführte Oxford-Sinfonie von Haydn (Partitur bei Rieter-Bieder¬
mann) fand in allen Theilen enthusiastische Aufnahme. Gern gehörte Be¬
kannte waren die Sinfonien L-aur von Schumann, ^,-molI von Mendels¬
sohn, Odur von Schubert. Von Ouvertüren sind Beethoven's Leonore
Ur. 2 und Wagner's Faust-Ouverture zu erwähnen. Drei Clavierconcerte
wurden, jedes in seiner Art vortrefflich ausgeführt. Mit Liszt's Ls-aur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/362>, abgerufen am 24.07.2024.