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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Staatslehre fällt lediglich eine kritische Aufgabe gegenüber dem so gefundenen
Inhalt zu. Bei der Untersuchung der im Bewußtsein staatlich lebender
Völker liegenden Zweckbestimmungen sind zunächst die einander verwandten
Gruppen ins Auge zu fassen. Als eine solche verwandte Gruppe stellen sich
für den vorliegenden Zweck diejenigen Staatenbildungen dar. deren Zusam¬
mengehörigkeit durch das Gültigkeitsgebiet des europäischen Völkerrechts einen
juristischen Ausdruck gefunden hat. Der Staat empfängt seine realen Zweck¬
bestimmungen für das politische Leben durch die Grundbeziehungen, in welche
das Volksbewußtsein zu den wesentlichen Gegenständen seiner Einwirkung
versetzt ist. -- Drei Momente lassen sich unterscheiden, welche den Staat zur
Unmöglichkeit machen würden. Diese Momente sind, wenn fremde Nationen
ihren Willen dauernd an die Stelle des einheimischen treten lassen (Eroberung),
wenn der Individualismus sich über die Macht der gemeinsamen Lebensnorm
allgemein hinwegsetzt (Anarchie) und wenn die Jnteressenfeindschaft der ein¬
zelnen Gesellschaftsclassen das Zusammenbestehen derselben unmöglich macht
(Auseinanderfall durch Losreißung oder Revolution). Innerhalb dieser drei
Grundbeziehungen des völkerschaftlichen Bewußtseins ergibt sich dem ent¬
sprechend ein dreifacher Staatszweck: der (nationale) Machtzweck, der (indi¬
viduelle) Rechtzweck und der (gesellschaftliche) Culturzweck des Staats.

Der nationale Machtzweck hat im Lauf der modernen Entwickelung
so sehr seine alte, den Ideen der antiken Welt über nationalstaatliche Existenz
entsprechende Bedeutung eingebüßt, daß man seit Jahrhunderten in den Lehr¬
büchern vergebens den einfachen Satz sucht, daß der Staat vor allen anderen
Dingen die Aufgabe hat, das vorhandene Gemeinbewußtsein des Volkes
gegen äußere Störung und Vernichtung zu schützen.

Theorien vom ewigen Frieden, Abschaffung der Heere, Zertrümmerung
der Großstaaten u. s. w., die im Hintergrund der gegenwärtigen Zeitperiode
auftauchen, verrücken mehr oder minder die eigentliche Fragestellung. Denn
für die praktische Politik ist der Machtzweck solange gebieterische Noth¬
wendigkeit, als ein Volk gegenüber einem anderen unberechtigte Forderungen
erhebt und die Begriffe über dasjenige, was Recht ist, von den nationalen
Vorstellungen soweit beherrscht werden, daß sich wesentliche Verschiedenheiten
der Auffassungen mit Nothwendigkeit ergeben müssen.

Dieser Zustand zeigt sich aber überall in Europa; es schweben eine
Menge Streitfragen, für die es im positiven Völkerrecht keine den interessieren
Staaten annehmbare Lösung gibt. Das Maß des vom Staate zulässiger
Weise zu machenden Machtaufwandes ist natürlich ein sehr verschiedenes,
weil dabei die völkerrechtlichen Garantien des Staatsbestandes, die geogra¬
phische Lage und die Entwickelungsbedingungen des inneren Staatslebens
in Betracht kommen. Sache der praktischen Politik ist vor Allem, die


Staatslehre fällt lediglich eine kritische Aufgabe gegenüber dem so gefundenen
Inhalt zu. Bei der Untersuchung der im Bewußtsein staatlich lebender
Völker liegenden Zweckbestimmungen sind zunächst die einander verwandten
Gruppen ins Auge zu fassen. Als eine solche verwandte Gruppe stellen sich
für den vorliegenden Zweck diejenigen Staatenbildungen dar. deren Zusam¬
mengehörigkeit durch das Gültigkeitsgebiet des europäischen Völkerrechts einen
juristischen Ausdruck gefunden hat. Der Staat empfängt seine realen Zweck¬
bestimmungen für das politische Leben durch die Grundbeziehungen, in welche
das Volksbewußtsein zu den wesentlichen Gegenständen seiner Einwirkung
versetzt ist. — Drei Momente lassen sich unterscheiden, welche den Staat zur
Unmöglichkeit machen würden. Diese Momente sind, wenn fremde Nationen
ihren Willen dauernd an die Stelle des einheimischen treten lassen (Eroberung),
wenn der Individualismus sich über die Macht der gemeinsamen Lebensnorm
allgemein hinwegsetzt (Anarchie) und wenn die Jnteressenfeindschaft der ein¬
zelnen Gesellschaftsclassen das Zusammenbestehen derselben unmöglich macht
(Auseinanderfall durch Losreißung oder Revolution). Innerhalb dieser drei
Grundbeziehungen des völkerschaftlichen Bewußtseins ergibt sich dem ent¬
sprechend ein dreifacher Staatszweck: der (nationale) Machtzweck, der (indi¬
viduelle) Rechtzweck und der (gesellschaftliche) Culturzweck des Staats.

Der nationale Machtzweck hat im Lauf der modernen Entwickelung
so sehr seine alte, den Ideen der antiken Welt über nationalstaatliche Existenz
entsprechende Bedeutung eingebüßt, daß man seit Jahrhunderten in den Lehr¬
büchern vergebens den einfachen Satz sucht, daß der Staat vor allen anderen
Dingen die Aufgabe hat, das vorhandene Gemeinbewußtsein des Volkes
gegen äußere Störung und Vernichtung zu schützen.

Theorien vom ewigen Frieden, Abschaffung der Heere, Zertrümmerung
der Großstaaten u. s. w., die im Hintergrund der gegenwärtigen Zeitperiode
auftauchen, verrücken mehr oder minder die eigentliche Fragestellung. Denn
für die praktische Politik ist der Machtzweck solange gebieterische Noth¬
wendigkeit, als ein Volk gegenüber einem anderen unberechtigte Forderungen
erhebt und die Begriffe über dasjenige, was Recht ist, von den nationalen
Vorstellungen soweit beherrscht werden, daß sich wesentliche Verschiedenheiten
der Auffassungen mit Nothwendigkeit ergeben müssen.

Dieser Zustand zeigt sich aber überall in Europa; es schweben eine
Menge Streitfragen, für die es im positiven Völkerrecht keine den interessieren
Staaten annehmbare Lösung gibt. Das Maß des vom Staate zulässiger
Weise zu machenden Machtaufwandes ist natürlich ein sehr verschiedenes,
weil dabei die völkerrechtlichen Garantien des Staatsbestandes, die geogra¬
phische Lage und die Entwickelungsbedingungen des inneren Staatslebens
in Betracht kommen. Sache der praktischen Politik ist vor Allem, die


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[0031] Staatslehre fällt lediglich eine kritische Aufgabe gegenüber dem so gefundenen Inhalt zu. Bei der Untersuchung der im Bewußtsein staatlich lebender Völker liegenden Zweckbestimmungen sind zunächst die einander verwandten Gruppen ins Auge zu fassen. Als eine solche verwandte Gruppe stellen sich für den vorliegenden Zweck diejenigen Staatenbildungen dar. deren Zusam¬ mengehörigkeit durch das Gültigkeitsgebiet des europäischen Völkerrechts einen juristischen Ausdruck gefunden hat. Der Staat empfängt seine realen Zweck¬ bestimmungen für das politische Leben durch die Grundbeziehungen, in welche das Volksbewußtsein zu den wesentlichen Gegenständen seiner Einwirkung versetzt ist. — Drei Momente lassen sich unterscheiden, welche den Staat zur Unmöglichkeit machen würden. Diese Momente sind, wenn fremde Nationen ihren Willen dauernd an die Stelle des einheimischen treten lassen (Eroberung), wenn der Individualismus sich über die Macht der gemeinsamen Lebensnorm allgemein hinwegsetzt (Anarchie) und wenn die Jnteressenfeindschaft der ein¬ zelnen Gesellschaftsclassen das Zusammenbestehen derselben unmöglich macht (Auseinanderfall durch Losreißung oder Revolution). Innerhalb dieser drei Grundbeziehungen des völkerschaftlichen Bewußtseins ergibt sich dem ent¬ sprechend ein dreifacher Staatszweck: der (nationale) Machtzweck, der (indi¬ viduelle) Rechtzweck und der (gesellschaftliche) Culturzweck des Staats. Der nationale Machtzweck hat im Lauf der modernen Entwickelung so sehr seine alte, den Ideen der antiken Welt über nationalstaatliche Existenz entsprechende Bedeutung eingebüßt, daß man seit Jahrhunderten in den Lehr¬ büchern vergebens den einfachen Satz sucht, daß der Staat vor allen anderen Dingen die Aufgabe hat, das vorhandene Gemeinbewußtsein des Volkes gegen äußere Störung und Vernichtung zu schützen. Theorien vom ewigen Frieden, Abschaffung der Heere, Zertrümmerung der Großstaaten u. s. w., die im Hintergrund der gegenwärtigen Zeitperiode auftauchen, verrücken mehr oder minder die eigentliche Fragestellung. Denn für die praktische Politik ist der Machtzweck solange gebieterische Noth¬ wendigkeit, als ein Volk gegenüber einem anderen unberechtigte Forderungen erhebt und die Begriffe über dasjenige, was Recht ist, von den nationalen Vorstellungen soweit beherrscht werden, daß sich wesentliche Verschiedenheiten der Auffassungen mit Nothwendigkeit ergeben müssen. Dieser Zustand zeigt sich aber überall in Europa; es schweben eine Menge Streitfragen, für die es im positiven Völkerrecht keine den interessieren Staaten annehmbare Lösung gibt. Das Maß des vom Staate zulässiger Weise zu machenden Machtaufwandes ist natürlich ein sehr verschiedenes, weil dabei die völkerrechtlichen Garantien des Staatsbestandes, die geogra¬ phische Lage und die Entwickelungsbedingungen des inneren Staatslebens in Betracht kommen. Sache der praktischen Politik ist vor Allem, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/31>, abgerufen am 04.07.2024.