Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

uns dünkt, schärfer ins Auge gefaßt hat, wie es in früheren Untersuchungen
geschehen ist. Nach Mohl z. B. bedeutet die Politik "die Wissenschaft von
den Mitteln, durch welche die Zwecke der Staaten so vollständig als mög¬
lich in der Wirklichkeit erreicht werden". Nach Bluntschli und einigen ver¬
wandten Forschern bedeutet Politik die Theorie des staatlichen Lebens und
seiner Veränderungen, im Gegensatz zur Rechtswissenschaft als der Theorie
der staatlichen Zustände. H. vindicirt von seinem Standpunkt aus der Po¬
litik zum Object und Inhalt: den richtigen Gebrauch und die Wirkungen
der außerhalb der Rechtspflege zur Erfüllung der Staatszwecke thatsächlich
verfügbaren Mittel. Nicht das Vorhandensein an sich, sondern der Gebrauch
und die Wirkungen der für die Durchführung der Staatszwecke verfügbaren
Mittel soll demnach das Entscheidende sein. -- Der reiche, ein weites Gebiet
der Untersuchung umspannende Inhalt des vorliegenden Werkes, den auch
nur im Umriß wiederzugeben der Umfang dieser Besprechung nicht gestattet,
zwingt uns eine einzelne Materie aus dem streng gegliederten Ganzen los¬
zulösen. Wir wollen daher in Nachfolgendem nur versuchen, den Gedanken¬
gang des Verfassers über die Staatszwecke wiederzugeben.

Die Untersuchung über das Verhältniß des positiven Rechts zur Politik
führt zu dem Resultat, daß in dem jeweilig gegebenen positiven Recht nur
das formelle, nicht aber das materielle Princip der Regierungsthätigkeit er-
schöpfend niedergelegt sein kann. Hierdurch entsteht die Frage nach dem sitt-
lichen Princip der Politik, mit anderen Worten: welche Gründe sollen
außerhalb des positiven Gesetzes und über dasselbe hinaus die Thätigkeit der
Staatsgewalt und ihrer Organe bestimmen? Den bisherigen Auffassungen
der praktischen Politik in ihrem Verhältniß zum Sittengesetz liegen meisten-
theils zwei Irrthümer zu Grunde: eine falsche Begriffsbestimmung der Politik
und eine irrige Anwendung der Privatmoral auf die staatlichen Dinge. So
lange dem alten Regierungssystem gemäß Politik nur als die Kunst erschien,
einseitig materielle Machtvortheile der Regierung zu erlangen, so lange mußte
natürlich die gewissenhafte Beobachtung staatlicher Pflichten als unvereinbar
mit dem Princip der Souverainetät erachtet werden. Eine veränderte Begriffs¬
bestimmung der Politik ward erst möglich, als die geschichtliche Erfahrung
unwiderstehlich darthat, daß Corruption das nothwendige Ergebniß einer Po¬
litik sein muß, die ohne Anerkennung sittlicher Grundsätze den Eigennutz der
Regierenden auf ihre Fahne schreibt. Der zweite Irrthum wurzelte in der
Ansicht, daß von einer moralischen Qualität der Politik nur dann gesprochen
werden könne, wenn dieselbe einfach mit den Grundsätzen der Privatmoral,
deren thatsächliche Voraussetzung die Lebenssphäre der einzelnen Personen
bildet, übereinstimme. Mit diesem Maßstab ist nun freilich nicht durchzu¬
kommen, weil im Staat ein besonderes Object der Anwendung für die Mo-


uns dünkt, schärfer ins Auge gefaßt hat, wie es in früheren Untersuchungen
geschehen ist. Nach Mohl z. B. bedeutet die Politik „die Wissenschaft von
den Mitteln, durch welche die Zwecke der Staaten so vollständig als mög¬
lich in der Wirklichkeit erreicht werden". Nach Bluntschli und einigen ver¬
wandten Forschern bedeutet Politik die Theorie des staatlichen Lebens und
seiner Veränderungen, im Gegensatz zur Rechtswissenschaft als der Theorie
der staatlichen Zustände. H. vindicirt von seinem Standpunkt aus der Po¬
litik zum Object und Inhalt: den richtigen Gebrauch und die Wirkungen
der außerhalb der Rechtspflege zur Erfüllung der Staatszwecke thatsächlich
verfügbaren Mittel. Nicht das Vorhandensein an sich, sondern der Gebrauch
und die Wirkungen der für die Durchführung der Staatszwecke verfügbaren
Mittel soll demnach das Entscheidende sein. — Der reiche, ein weites Gebiet
der Untersuchung umspannende Inhalt des vorliegenden Werkes, den auch
nur im Umriß wiederzugeben der Umfang dieser Besprechung nicht gestattet,
zwingt uns eine einzelne Materie aus dem streng gegliederten Ganzen los¬
zulösen. Wir wollen daher in Nachfolgendem nur versuchen, den Gedanken¬
gang des Verfassers über die Staatszwecke wiederzugeben.

Die Untersuchung über das Verhältniß des positiven Rechts zur Politik
führt zu dem Resultat, daß in dem jeweilig gegebenen positiven Recht nur
das formelle, nicht aber das materielle Princip der Regierungsthätigkeit er-
schöpfend niedergelegt sein kann. Hierdurch entsteht die Frage nach dem sitt-
lichen Princip der Politik, mit anderen Worten: welche Gründe sollen
außerhalb des positiven Gesetzes und über dasselbe hinaus die Thätigkeit der
Staatsgewalt und ihrer Organe bestimmen? Den bisherigen Auffassungen
der praktischen Politik in ihrem Verhältniß zum Sittengesetz liegen meisten-
theils zwei Irrthümer zu Grunde: eine falsche Begriffsbestimmung der Politik
und eine irrige Anwendung der Privatmoral auf die staatlichen Dinge. So
lange dem alten Regierungssystem gemäß Politik nur als die Kunst erschien,
einseitig materielle Machtvortheile der Regierung zu erlangen, so lange mußte
natürlich die gewissenhafte Beobachtung staatlicher Pflichten als unvereinbar
mit dem Princip der Souverainetät erachtet werden. Eine veränderte Begriffs¬
bestimmung der Politik ward erst möglich, als die geschichtliche Erfahrung
unwiderstehlich darthat, daß Corruption das nothwendige Ergebniß einer Po¬
litik sein muß, die ohne Anerkennung sittlicher Grundsätze den Eigennutz der
Regierenden auf ihre Fahne schreibt. Der zweite Irrthum wurzelte in der
Ansicht, daß von einer moralischen Qualität der Politik nur dann gesprochen
werden könne, wenn dieselbe einfach mit den Grundsätzen der Privatmoral,
deren thatsächliche Voraussetzung die Lebenssphäre der einzelnen Personen
bildet, übereinstimme. Mit diesem Maßstab ist nun freilich nicht durchzu¬
kommen, weil im Staat ein besonderes Object der Anwendung für die Mo-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120716"/>
          <p xml:id="ID_67" prev="#ID_66"> uns dünkt, schärfer ins Auge gefaßt hat, wie es in früheren Untersuchungen<lb/>
geschehen ist. Nach Mohl z. B. bedeutet die Politik &#x201E;die Wissenschaft von<lb/>
den Mitteln, durch welche die Zwecke der Staaten so vollständig als mög¬<lb/>
lich in der Wirklichkeit erreicht werden". Nach Bluntschli und einigen ver¬<lb/>
wandten Forschern bedeutet Politik die Theorie des staatlichen Lebens und<lb/>
seiner Veränderungen, im Gegensatz zur Rechtswissenschaft als der Theorie<lb/>
der staatlichen Zustände. H. vindicirt von seinem Standpunkt aus der Po¬<lb/>
litik zum Object und Inhalt: den richtigen Gebrauch und die Wirkungen<lb/>
der außerhalb der Rechtspflege zur Erfüllung der Staatszwecke thatsächlich<lb/>
verfügbaren Mittel. Nicht das Vorhandensein an sich, sondern der Gebrauch<lb/>
und die Wirkungen der für die Durchführung der Staatszwecke verfügbaren<lb/>
Mittel soll demnach das Entscheidende sein. &#x2014; Der reiche, ein weites Gebiet<lb/>
der Untersuchung umspannende Inhalt des vorliegenden Werkes, den auch<lb/>
nur im Umriß wiederzugeben der Umfang dieser Besprechung nicht gestattet,<lb/>
zwingt uns eine einzelne Materie aus dem streng gegliederten Ganzen los¬<lb/>
zulösen. Wir wollen daher in Nachfolgendem nur versuchen, den Gedanken¬<lb/>
gang des Verfassers über die Staatszwecke wiederzugeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_68" next="#ID_69"> Die Untersuchung über das Verhältniß des positiven Rechts zur Politik<lb/>
führt zu dem Resultat, daß in dem jeweilig gegebenen positiven Recht nur<lb/>
das formelle, nicht aber das materielle Princip der Regierungsthätigkeit er-<lb/>
schöpfend niedergelegt sein kann. Hierdurch entsteht die Frage nach dem sitt-<lb/>
lichen Princip der Politik, mit anderen Worten: welche Gründe sollen<lb/>
außerhalb des positiven Gesetzes und über dasselbe hinaus die Thätigkeit der<lb/>
Staatsgewalt und ihrer Organe bestimmen? Den bisherigen Auffassungen<lb/>
der praktischen Politik in ihrem Verhältniß zum Sittengesetz liegen meisten-<lb/>
theils zwei Irrthümer zu Grunde: eine falsche Begriffsbestimmung der Politik<lb/>
und eine irrige Anwendung der Privatmoral auf die staatlichen Dinge. So<lb/>
lange dem alten Regierungssystem gemäß Politik nur als die Kunst erschien,<lb/>
einseitig materielle Machtvortheile der Regierung zu erlangen, so lange mußte<lb/>
natürlich die gewissenhafte Beobachtung staatlicher Pflichten als unvereinbar<lb/>
mit dem Princip der Souverainetät erachtet werden. Eine veränderte Begriffs¬<lb/>
bestimmung der Politik ward erst möglich, als die geschichtliche Erfahrung<lb/>
unwiderstehlich darthat, daß Corruption das nothwendige Ergebniß einer Po¬<lb/>
litik sein muß, die ohne Anerkennung sittlicher Grundsätze den Eigennutz der<lb/>
Regierenden auf ihre Fahne schreibt. Der zweite Irrthum wurzelte in der<lb/>
Ansicht, daß von einer moralischen Qualität der Politik nur dann gesprochen<lb/>
werden könne, wenn dieselbe einfach mit den Grundsätzen der Privatmoral,<lb/>
deren thatsächliche Voraussetzung die Lebenssphäre der einzelnen Personen<lb/>
bildet, übereinstimme. Mit diesem Maßstab ist nun freilich nicht durchzu¬<lb/>
kommen, weil im Staat ein besonderes Object der Anwendung für die Mo-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] uns dünkt, schärfer ins Auge gefaßt hat, wie es in früheren Untersuchungen geschehen ist. Nach Mohl z. B. bedeutet die Politik „die Wissenschaft von den Mitteln, durch welche die Zwecke der Staaten so vollständig als mög¬ lich in der Wirklichkeit erreicht werden". Nach Bluntschli und einigen ver¬ wandten Forschern bedeutet Politik die Theorie des staatlichen Lebens und seiner Veränderungen, im Gegensatz zur Rechtswissenschaft als der Theorie der staatlichen Zustände. H. vindicirt von seinem Standpunkt aus der Po¬ litik zum Object und Inhalt: den richtigen Gebrauch und die Wirkungen der außerhalb der Rechtspflege zur Erfüllung der Staatszwecke thatsächlich verfügbaren Mittel. Nicht das Vorhandensein an sich, sondern der Gebrauch und die Wirkungen der für die Durchführung der Staatszwecke verfügbaren Mittel soll demnach das Entscheidende sein. — Der reiche, ein weites Gebiet der Untersuchung umspannende Inhalt des vorliegenden Werkes, den auch nur im Umriß wiederzugeben der Umfang dieser Besprechung nicht gestattet, zwingt uns eine einzelne Materie aus dem streng gegliederten Ganzen los¬ zulösen. Wir wollen daher in Nachfolgendem nur versuchen, den Gedanken¬ gang des Verfassers über die Staatszwecke wiederzugeben. Die Untersuchung über das Verhältniß des positiven Rechts zur Politik führt zu dem Resultat, daß in dem jeweilig gegebenen positiven Recht nur das formelle, nicht aber das materielle Princip der Regierungsthätigkeit er- schöpfend niedergelegt sein kann. Hierdurch entsteht die Frage nach dem sitt- lichen Princip der Politik, mit anderen Worten: welche Gründe sollen außerhalb des positiven Gesetzes und über dasselbe hinaus die Thätigkeit der Staatsgewalt und ihrer Organe bestimmen? Den bisherigen Auffassungen der praktischen Politik in ihrem Verhältniß zum Sittengesetz liegen meisten- theils zwei Irrthümer zu Grunde: eine falsche Begriffsbestimmung der Politik und eine irrige Anwendung der Privatmoral auf die staatlichen Dinge. So lange dem alten Regierungssystem gemäß Politik nur als die Kunst erschien, einseitig materielle Machtvortheile der Regierung zu erlangen, so lange mußte natürlich die gewissenhafte Beobachtung staatlicher Pflichten als unvereinbar mit dem Princip der Souverainetät erachtet werden. Eine veränderte Begriffs¬ bestimmung der Politik ward erst möglich, als die geschichtliche Erfahrung unwiderstehlich darthat, daß Corruption das nothwendige Ergebniß einer Po¬ litik sein muß, die ohne Anerkennung sittlicher Grundsätze den Eigennutz der Regierenden auf ihre Fahne schreibt. Der zweite Irrthum wurzelte in der Ansicht, daß von einer moralischen Qualität der Politik nur dann gesprochen werden könne, wenn dieselbe einfach mit den Grundsätzen der Privatmoral, deren thatsächliche Voraussetzung die Lebenssphäre der einzelnen Personen bildet, übereinstimme. Mit diesem Maßstab ist nun freilich nicht durchzu¬ kommen, weil im Staat ein besonderes Object der Anwendung für die Mo-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/29>, abgerufen am 24.07.2024.