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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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überall adäquat bleibt. Kühnheit und Vorsicht, Schlagfertigkeit und Zau¬
dern, Offenheit und Verschwiegenheit. Zurückhaltung und Entgegenkommen,
zu Allem muß die Anlage und die Festigkeit vorhanden und gebildet sein --
was freilich nur durch die Mannigfaltigkeit des Lebens selbst erreichbar ist.

Der Unerfahrenheit kann das gelegentliche Hervortreten verschiedener
Eigenschaften in dem Verhalten eines Staatsmannes räthselhaft oder unbe¬
greiflich erscheinen. Jener anscheinende Widerspruch ist gleichsam der Wider¬
schein einer höheren Einheit des staatsmännischen Charakters in seinem Ver¬
hältniß zu den Thatsachen, von denen er sich abhängig weiß. Die historische
Kritik hat nicht nur die Erfolge eines Staatsmannes, soweit sie ihm zuge¬
rechnet werden können, sondern ebensosehr die Hindernisse abzuschätzen, die er
zu überwinden hatte.

Fast dürfte man sagen: "Die Größe der persönlichen Kräfte im Staats¬
manne bewähre sich vorzugsweise in der Sprödigkeit des ihnen entgegen¬
stehenden Materials. Männer wie Cavour erscheinen dadurch bewunderns¬
würdig, daß sie bald die legitimistischen und bigotten Scrupel eines Macht¬
habers, bald die revolutionairen Erregungen der Volksmasse zu einem
Ziel zu lenken verstehen. Für solche höchste Thaten der Staatskunst kann
es selbstverständlich keine Theorie geben, weil sie in der Geschichte als gleich¬
sam vereinsamte Ereignisse hervortreten." -- Eine Charakteristik staatsmänni¬
scher Begabung, die zu solchem Schluß gelangt, wird die politische Theorie
jedenfalls von dem Verdacht etwaiger anmaßlicher Ueberhebung befreien. Es
ist von vornherein die Annahme auszuschließen, daß eine Untersuchung über
das Wesen der Politik gleichsam einen Leitfaden für Staatsmänner oder
solche, die es werden wollen, abzugeben bezwecke, obgleich es andererseits
das Wesen der Sache verkennen hieße, wenn man die Behauptung aufstellen
wollte, daß die theoretische Politik für den Staatsmann keinen Werth haben
könne. Politik als Staatskunst ist erfolgreiche, dem Staatszweck ent¬
sprechende Staatshandlung. Schon hieraus ergibt sich, daß, wie hoch man
die persönliche staatsmännische Begabung in dem oben entwickelten Sinne
auch anschlagen mag, zur Vollendung derselben die klare Erfassung des
Staatszweckes unbedingt nothwendig ist. Gerade in diesem Punkt ist in dem
ausgesprochensten Maße eine Verbindung der theoretischen mit der prakti¬
schen Politik gegeben, denn auch für den Inhalt der ersteren ist die Dar¬
stellung der Staatszwecke eine unumgänglich zu beantwortende Vorfrage,
Die Anwendbarkeit der politischen Theorie auf specielle Objecte ist erst zu
entscheiden nach Festsetzung der Staatszwecke. Handlung für den Staat und
seine Zwecke ist die oberste Vorstellung, von welcher in der Politik ausge¬
gangen werden muß.

Es ist ein Verdienst des vorliegenden Werkes, daß es diesen Punkt, wie


überall adäquat bleibt. Kühnheit und Vorsicht, Schlagfertigkeit und Zau¬
dern, Offenheit und Verschwiegenheit. Zurückhaltung und Entgegenkommen,
zu Allem muß die Anlage und die Festigkeit vorhanden und gebildet sein —
was freilich nur durch die Mannigfaltigkeit des Lebens selbst erreichbar ist.

Der Unerfahrenheit kann das gelegentliche Hervortreten verschiedener
Eigenschaften in dem Verhalten eines Staatsmannes räthselhaft oder unbe¬
greiflich erscheinen. Jener anscheinende Widerspruch ist gleichsam der Wider¬
schein einer höheren Einheit des staatsmännischen Charakters in seinem Ver¬
hältniß zu den Thatsachen, von denen er sich abhängig weiß. Die historische
Kritik hat nicht nur die Erfolge eines Staatsmannes, soweit sie ihm zuge¬
rechnet werden können, sondern ebensosehr die Hindernisse abzuschätzen, die er
zu überwinden hatte.

Fast dürfte man sagen: „Die Größe der persönlichen Kräfte im Staats¬
manne bewähre sich vorzugsweise in der Sprödigkeit des ihnen entgegen¬
stehenden Materials. Männer wie Cavour erscheinen dadurch bewunderns¬
würdig, daß sie bald die legitimistischen und bigotten Scrupel eines Macht¬
habers, bald die revolutionairen Erregungen der Volksmasse zu einem
Ziel zu lenken verstehen. Für solche höchste Thaten der Staatskunst kann
es selbstverständlich keine Theorie geben, weil sie in der Geschichte als gleich¬
sam vereinsamte Ereignisse hervortreten." — Eine Charakteristik staatsmänni¬
scher Begabung, die zu solchem Schluß gelangt, wird die politische Theorie
jedenfalls von dem Verdacht etwaiger anmaßlicher Ueberhebung befreien. Es
ist von vornherein die Annahme auszuschließen, daß eine Untersuchung über
das Wesen der Politik gleichsam einen Leitfaden für Staatsmänner oder
solche, die es werden wollen, abzugeben bezwecke, obgleich es andererseits
das Wesen der Sache verkennen hieße, wenn man die Behauptung aufstellen
wollte, daß die theoretische Politik für den Staatsmann keinen Werth haben
könne. Politik als Staatskunst ist erfolgreiche, dem Staatszweck ent¬
sprechende Staatshandlung. Schon hieraus ergibt sich, daß, wie hoch man
die persönliche staatsmännische Begabung in dem oben entwickelten Sinne
auch anschlagen mag, zur Vollendung derselben die klare Erfassung des
Staatszweckes unbedingt nothwendig ist. Gerade in diesem Punkt ist in dem
ausgesprochensten Maße eine Verbindung der theoretischen mit der prakti¬
schen Politik gegeben, denn auch für den Inhalt der ersteren ist die Dar¬
stellung der Staatszwecke eine unumgänglich zu beantwortende Vorfrage,
Die Anwendbarkeit der politischen Theorie auf specielle Objecte ist erst zu
entscheiden nach Festsetzung der Staatszwecke. Handlung für den Staat und
seine Zwecke ist die oberste Vorstellung, von welcher in der Politik ausge¬
gangen werden muß.

Es ist ein Verdienst des vorliegenden Werkes, daß es diesen Punkt, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/28>, abgerufen am 04.07.2024.