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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Alles beim Alten geblieben. Aber die Länge erschwert die Last --das Drängen
des Volks und der innere Conflict der lutherischen Geistlichen wurden immer
unerträglicher. Namentlich im chemischen Livland gab es Tausende und aber
Tausende zur griechischen Kirche verzeichneter Landleute, welche jede Gemein¬
schaft mit dieser Kirche mieden, blos lutherische Gottesdienste besuchten, das
Abendmahl entweder gar nicht genossen oder heimlich und unter falschen
Namen in der lutherischen Kirche "arripirten", ihre Kinder selbst tauften,
keine gesetzlich giltigen Ehen abschlossen und sich damit begnügten, vor dem
Gemeindegericht Gelöbnisse ehelicher Treue auszutauschen. Die einzelnen Pre¬
diger, welche es wagten, diese Leute als Lutheraner zu behandeln, wurden
bestraft, so daß ein allgemeiner Widerstand der lutherischen Geistlichkeit blos
dazu geführt hätte, alle Pfarren des Landes vacant zu machen.

Dieser entsetzliche Zustand der Dinge dauert noch gegenwärtig zum
Schaden der öffentlichen Sittlichkeit und zur Verzweiflung vieler Tausende
in ihren Gewissen beängstigter Layen und der lutherischen Geistlichen in Liv¬
land fort -- ein Ende ist nicht abzusehen, da der Regierung durch das
Nationalvorurtheil wirklich oder scheinbar die Hände gebunden sind. Wohl
ist es unmöglich geworden, daß wie in früherer Zeit säumige Communicanten
Ruthenstrafe erhalten und Eltern, die ihre Kinder nicht zur Taufe bringen,
derselben gewaltsam beraubt werden -- aber der herrschende Zustand ist
darum nicht minder unerträglich. Ein ganzes Geschlecht, das von jeder
kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und sich selbst überlassen ist, wächst
heran, ohne daß die protestantische Bevölkerung des Landes ihm die Hand
reichen kann. Tausende halbgebildeter Menschen sind lediglich sich selbst und
ihrem sittlichen Jnstinct überlassen.

Das Buch, welches zu dieser Darstellung Veranlassung bot, giebt von
den Einzelheiten des Kampfes, welchen die lutherische Kirche Livlands ge¬
führt hat und noch führt, ausführlichen, treuen und mit Ackerstücken belegten
Bericht. Es schildert im Einzelnen, wie elend das Geschick derer gewesen
und geworden, die unter dem Joch eines unerbittlichen Gesetzes stehend, an
dem ursprünglichsten und ersten aller Menschenrechte verkürzt sind; besonders
ergreifend sind die Berichte und Schilderungen, welche von einfachen Bauern
herrühren und in großer Anzahl vorhanden sind.

Dem deutschen Publicum gegenüber wird es einer weiteren Empfehlung
des Harleß'schen Buchs nicht bedürfen. Das Wort des großen Königs, "daß
Jeder nach seiner Facon selig werden müsse und daß der Fiscal blos darauf
sein Auge zu haben brauche, daß keine Religion der andern Abbruch thue",
ist in Deutschland so vollständig zur Wahrheit geworden, daß wir uns von
diesem Zustande der Gebundenheit menschlicher Gewissen kaum mehr eine
Vorstellung machen können.


Alles beim Alten geblieben. Aber die Länge erschwert die Last —das Drängen
des Volks und der innere Conflict der lutherischen Geistlichen wurden immer
unerträglicher. Namentlich im chemischen Livland gab es Tausende und aber
Tausende zur griechischen Kirche verzeichneter Landleute, welche jede Gemein¬
schaft mit dieser Kirche mieden, blos lutherische Gottesdienste besuchten, das
Abendmahl entweder gar nicht genossen oder heimlich und unter falschen
Namen in der lutherischen Kirche „arripirten", ihre Kinder selbst tauften,
keine gesetzlich giltigen Ehen abschlossen und sich damit begnügten, vor dem
Gemeindegericht Gelöbnisse ehelicher Treue auszutauschen. Die einzelnen Pre¬
diger, welche es wagten, diese Leute als Lutheraner zu behandeln, wurden
bestraft, so daß ein allgemeiner Widerstand der lutherischen Geistlichkeit blos
dazu geführt hätte, alle Pfarren des Landes vacant zu machen.

Dieser entsetzliche Zustand der Dinge dauert noch gegenwärtig zum
Schaden der öffentlichen Sittlichkeit und zur Verzweiflung vieler Tausende
in ihren Gewissen beängstigter Layen und der lutherischen Geistlichen in Liv¬
land fort — ein Ende ist nicht abzusehen, da der Regierung durch das
Nationalvorurtheil wirklich oder scheinbar die Hände gebunden sind. Wohl
ist es unmöglich geworden, daß wie in früherer Zeit säumige Communicanten
Ruthenstrafe erhalten und Eltern, die ihre Kinder nicht zur Taufe bringen,
derselben gewaltsam beraubt werden — aber der herrschende Zustand ist
darum nicht minder unerträglich. Ein ganzes Geschlecht, das von jeder
kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und sich selbst überlassen ist, wächst
heran, ohne daß die protestantische Bevölkerung des Landes ihm die Hand
reichen kann. Tausende halbgebildeter Menschen sind lediglich sich selbst und
ihrem sittlichen Jnstinct überlassen.

Das Buch, welches zu dieser Darstellung Veranlassung bot, giebt von
den Einzelheiten des Kampfes, welchen die lutherische Kirche Livlands ge¬
führt hat und noch führt, ausführlichen, treuen und mit Ackerstücken belegten
Bericht. Es schildert im Einzelnen, wie elend das Geschick derer gewesen
und geworden, die unter dem Joch eines unerbittlichen Gesetzes stehend, an
dem ursprünglichsten und ersten aller Menschenrechte verkürzt sind; besonders
ergreifend sind die Berichte und Schilderungen, welche von einfachen Bauern
herrühren und in großer Anzahl vorhanden sind.

Dem deutschen Publicum gegenüber wird es einer weiteren Empfehlung
des Harleß'schen Buchs nicht bedürfen. Das Wort des großen Königs, „daß
Jeder nach seiner Facon selig werden müsse und daß der Fiscal blos darauf
sein Auge zu haben brauche, daß keine Religion der andern Abbruch thue",
ist in Deutschland so vollständig zur Wahrheit geworden, daß wir uns von
diesem Zustande der Gebundenheit menschlicher Gewissen kaum mehr eine
Vorstellung machen können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/20>, abgerufen am 04.07.2024.