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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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aber durchsehen, wie schwer der Regierung der Entschluß gefallen war.
und wie lebhaft sie Unzufriedenheitsäußerungen der griechischen Geistlichkeit
und der russischen Nation besorgte. Es war bisher die Vorschrift in Kraft
gewesen, daß alle Brautleute, welche zum Theil der lutherischen, zum
Theil der griechischen Kirche angehörten, vor der Kopulation durch den russi¬
schen Priester (welche für die Gültigkeit der Eheschließung obligatorisch ist)
einen Revers unterzeichnen mußten, in welchem sie sich verpflichten, ihre etwaige
Nachkommenschaft nach griechisch-orthodoxen Ritus zu erziehen. Diese Re¬
verse wurden aufgehoben, aber nicht durch ein förmlich erlassenes und publi-
eirtes Gesetz, sondern durch eine dem Generalgouvernement und den Kirchen-
behörden der baltischen Provinzen im Namen des Kaisers confidentiell mit¬
getheilte Ordre des Ministers des Innern und mit Umgehung des Synods,
der griechischen Oberkirchenbehörde.

Wie groß der Eindruck war. den diese im April 186S erlassene Vor¬
schrift in Livland machte, kann nur ermessen, wer den jahrelangen Nothstand,
das vergebliche Harren auf die Wiederherstellung des alten Landesrechts, die
Calamitäten, welche jede gemischte Ehe im Gefolge hatte, als Augenzeuge
mit durchgemacht hat. Ein dankbarer Jubelruf tönte durch das ganze Land,
man glaubte sich am Vorabend eines Toleranzgesetzes und einer besseren
Zukunft. Aber diese Freude war von kurzer Dauer. Man wurde nicht
nur gewahr, daß die Regierung bis an die äußerste Grenze der ihr mög¬
lichen Concessionen gegangen zu sein glaubte, und daß die Verzweiflung der
in der griechischen Kirche gebliebenen Letten und Ehlen in dem Maß zunahm,
als die Eheschließungen mit Lutheranern erleichtert waren -- es zeigte sich
bald auch, daß die griechische Geistlichkeit der neuen, nicht zum Gesetz er¬
hobenen Maßregel energischen passiven Widerstand entgegensetzte und unter
Ausflüchten aller Art die Copulation solcher gemischter Brautpaare verwei¬
gerte, welche von der ihnen zustehenden neuen Freiheit Gebrauch machen
wollten. Namentlich in den entfernteren, dem Auge der Provinzialobrigkeit
entrückten Gegenden blieb der seu-eng puo ante im Wesentlichen unverändert
fortbestehen, und dauerte es oft Wochen und Monate, ehe die rennenden
Priester zum Gehorsam gebracht werden konnten. Den zur griechischen Kirche
gehörigen Ehecandidaten, welche die Reverse nicht unterzeichneten, ließ sich leicht
nachweisen, daß sie überhaupt die Vorschriften ihrer Confessionen nicht streng
befolgten, und das war Grund genug, sie vom "Sacrament der Ehe" aus¬
zuschließen, oder ihnen dasselbe dauernd vorzuenthalten. Da die lutheri¬
schen Prediger diese Paare nicht trauen durften, dergleichen Trauungen auch
nicht giltig gewesen wären, so blieb das Concubinat nach wie vor das ein¬
zige Auskunftsmittel.

Bezüglich der ein Mal zur griechischen Kirche Uebergetretenen war gleichfalls


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aber durchsehen, wie schwer der Regierung der Entschluß gefallen war.
und wie lebhaft sie Unzufriedenheitsäußerungen der griechischen Geistlichkeit
und der russischen Nation besorgte. Es war bisher die Vorschrift in Kraft
gewesen, daß alle Brautleute, welche zum Theil der lutherischen, zum
Theil der griechischen Kirche angehörten, vor der Kopulation durch den russi¬
schen Priester (welche für die Gültigkeit der Eheschließung obligatorisch ist)
einen Revers unterzeichnen mußten, in welchem sie sich verpflichten, ihre etwaige
Nachkommenschaft nach griechisch-orthodoxen Ritus zu erziehen. Diese Re¬
verse wurden aufgehoben, aber nicht durch ein förmlich erlassenes und publi-
eirtes Gesetz, sondern durch eine dem Generalgouvernement und den Kirchen-
behörden der baltischen Provinzen im Namen des Kaisers confidentiell mit¬
getheilte Ordre des Ministers des Innern und mit Umgehung des Synods,
der griechischen Oberkirchenbehörde.

Wie groß der Eindruck war. den diese im April 186S erlassene Vor¬
schrift in Livland machte, kann nur ermessen, wer den jahrelangen Nothstand,
das vergebliche Harren auf die Wiederherstellung des alten Landesrechts, die
Calamitäten, welche jede gemischte Ehe im Gefolge hatte, als Augenzeuge
mit durchgemacht hat. Ein dankbarer Jubelruf tönte durch das ganze Land,
man glaubte sich am Vorabend eines Toleranzgesetzes und einer besseren
Zukunft. Aber diese Freude war von kurzer Dauer. Man wurde nicht
nur gewahr, daß die Regierung bis an die äußerste Grenze der ihr mög¬
lichen Concessionen gegangen zu sein glaubte, und daß die Verzweiflung der
in der griechischen Kirche gebliebenen Letten und Ehlen in dem Maß zunahm,
als die Eheschließungen mit Lutheranern erleichtert waren — es zeigte sich
bald auch, daß die griechische Geistlichkeit der neuen, nicht zum Gesetz er¬
hobenen Maßregel energischen passiven Widerstand entgegensetzte und unter
Ausflüchten aller Art die Copulation solcher gemischter Brautpaare verwei¬
gerte, welche von der ihnen zustehenden neuen Freiheit Gebrauch machen
wollten. Namentlich in den entfernteren, dem Auge der Provinzialobrigkeit
entrückten Gegenden blieb der seu-eng puo ante im Wesentlichen unverändert
fortbestehen, und dauerte es oft Wochen und Monate, ehe die rennenden
Priester zum Gehorsam gebracht werden konnten. Den zur griechischen Kirche
gehörigen Ehecandidaten, welche die Reverse nicht unterzeichneten, ließ sich leicht
nachweisen, daß sie überhaupt die Vorschriften ihrer Confessionen nicht streng
befolgten, und das war Grund genug, sie vom „Sacrament der Ehe" aus¬
zuschließen, oder ihnen dasselbe dauernd vorzuenthalten. Da die lutheri¬
schen Prediger diese Paare nicht trauen durften, dergleichen Trauungen auch
nicht giltig gewesen wären, so blieb das Concubinat nach wie vor das ein¬
zige Auskunftsmittel.

Bezüglich der ein Mal zur griechischen Kirche Uebergetretenen war gleichfalls


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[0019] aber durchsehen, wie schwer der Regierung der Entschluß gefallen war. und wie lebhaft sie Unzufriedenheitsäußerungen der griechischen Geistlichkeit und der russischen Nation besorgte. Es war bisher die Vorschrift in Kraft gewesen, daß alle Brautleute, welche zum Theil der lutherischen, zum Theil der griechischen Kirche angehörten, vor der Kopulation durch den russi¬ schen Priester (welche für die Gültigkeit der Eheschließung obligatorisch ist) einen Revers unterzeichnen mußten, in welchem sie sich verpflichten, ihre etwaige Nachkommenschaft nach griechisch-orthodoxen Ritus zu erziehen. Diese Re¬ verse wurden aufgehoben, aber nicht durch ein förmlich erlassenes und publi- eirtes Gesetz, sondern durch eine dem Generalgouvernement und den Kirchen- behörden der baltischen Provinzen im Namen des Kaisers confidentiell mit¬ getheilte Ordre des Ministers des Innern und mit Umgehung des Synods, der griechischen Oberkirchenbehörde. Wie groß der Eindruck war. den diese im April 186S erlassene Vor¬ schrift in Livland machte, kann nur ermessen, wer den jahrelangen Nothstand, das vergebliche Harren auf die Wiederherstellung des alten Landesrechts, die Calamitäten, welche jede gemischte Ehe im Gefolge hatte, als Augenzeuge mit durchgemacht hat. Ein dankbarer Jubelruf tönte durch das ganze Land, man glaubte sich am Vorabend eines Toleranzgesetzes und einer besseren Zukunft. Aber diese Freude war von kurzer Dauer. Man wurde nicht nur gewahr, daß die Regierung bis an die äußerste Grenze der ihr mög¬ lichen Concessionen gegangen zu sein glaubte, und daß die Verzweiflung der in der griechischen Kirche gebliebenen Letten und Ehlen in dem Maß zunahm, als die Eheschließungen mit Lutheranern erleichtert waren — es zeigte sich bald auch, daß die griechische Geistlichkeit der neuen, nicht zum Gesetz er¬ hobenen Maßregel energischen passiven Widerstand entgegensetzte und unter Ausflüchten aller Art die Copulation solcher gemischter Brautpaare verwei¬ gerte, welche von der ihnen zustehenden neuen Freiheit Gebrauch machen wollten. Namentlich in den entfernteren, dem Auge der Provinzialobrigkeit entrückten Gegenden blieb der seu-eng puo ante im Wesentlichen unverändert fortbestehen, und dauerte es oft Wochen und Monate, ehe die rennenden Priester zum Gehorsam gebracht werden konnten. Den zur griechischen Kirche gehörigen Ehecandidaten, welche die Reverse nicht unterzeichneten, ließ sich leicht nachweisen, daß sie überhaupt die Vorschriften ihrer Confessionen nicht streng befolgten, und das war Grund genug, sie vom „Sacrament der Ehe" aus¬ zuschließen, oder ihnen dasselbe dauernd vorzuenthalten. Da die lutheri¬ schen Prediger diese Paare nicht trauen durften, dergleichen Trauungen auch nicht giltig gewesen wären, so blieb das Concubinat nach wie vor das ein¬ zige Auskunftsmittel. Bezüglich der ein Mal zur griechischen Kirche Uebergetretenen war gleichfalls 2»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/19>, abgerufen am 04.07.2024.