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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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in welchen eine Debatte über die Erweiterung des Bundeskanzleramts zu
einem Ministerium fiel und über den Gedanken und Möglichkeiten, die sich
an dieses parlamentarische Ereigniß knüpfen, hätten wir vergessen dürfen,
was sonst um uns herum geschah. Unser Dreinreden wäre doch unbeachtet
verhallt.

Heute steht die Sache anders, denn unser Einfluß in der großen Welt,
der von unseren Wünschen und Idealen unabhängigen Realität, ist ein an¬
derer geworden.-- Aus der Zahl der internationalen Angelegenheiten, welche
in den letzten vier Wochen zur Verhandlung kamen, tritt uns eine entgegen,
deren wirkliche Bedeutung sich zwar noch nicht feststellen läßt, die im Auge
zu behalten wir aber allen Grund haben: die belgisch-französische Eisenbahn¬
angelegenheit, welche in ein Stadium getreten ist, das die Verkehrtheit der
Zustände und Anschauungen an unserer Westgrenze deutlich illustrirt.

Worum handelt es sich in diesem französisch-belgischen Eisenbahnhandel,
der alle Augenblicke Miene macht, zur internationalen Frage zu werden, ob¬
gleich er im Grunde nicht einmal das ist, was man eine "Frage" nennt? Die
mit der kaiserlichen Regierung ziemlich eng zusammenhängende Gesellschaft
der französischen Ostbahn (Lowps.Anis ü-ardaise 6e l'Lst) fühlte schon seit
lange das Bedürfniß, sich auszudehnen und ihre Netze durch innere wie aus¬
wärtige Maschen zu bereichern. Sie begann damit, im Frühjahr 1868 die
Luxemburger Wilhelmsbahn zu erwerben, welche sich durch das Gebiet jenes
sehnsüchtig begehrten Großherzogthums zieht, dessen Verkauf dem Könige von
Holland vor zwei Jahren untersagt wurde; diese Bahn mündet auf belgi¬
sches Gebiet aus, da sie bis vor die Thore von Spaa sührt. Da diesem
Geschäft weder von belgischer noch von niederländisch-luxemburgischer Seite
Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden waren, so glaubten die französi¬
schen Actionaire, auf dem Wege weiterer Erwerbungen im Auslande vor¬
schreiten zu können, ein Gedanke, der, wie wir annehmen müssen, außerhalb
der Gesellschaft, vielleicht in der Nähe des Tuilerienhofes zuerst entsprungen
war, denn der Zusammenhang der Compagnie mit den Pariser Machthabern
wird von diesen selbst nicht im Ernst geleugnet. Schon sechs Monate nach
dem Ankauf der Wilhelmsbahn wurde der belgischen Gesellschaft des Kraud-
I^uxemdours (Linie Arion-Brüssel) der Vorschlag gemacht, ihr Eigenthum
gleichfalls in französische Hände übergehen zu lassen. Obgleich ein früherer
Minister Leopolds I. und bekannter belgischer Politiker, Victor Tesch, an der
Spitze des Krauä-^uxemdoui-Z steht, fand der von vortheilhaften Be¬
dingungen begleitete Vorschlag bei den Brüsseler Actionairen Beifall, und
vielleicht wäre auch dieses Geschäft in aller Stille abgemacht worden, wenn
die französische Begehrlichkeit sich mit demselben begnügt und nicht gleich¬
zeitig einen zweiten Schritt gethan hätte, der die Aufmerksamkeit des Herrn


in welchen eine Debatte über die Erweiterung des Bundeskanzleramts zu
einem Ministerium fiel und über den Gedanken und Möglichkeiten, die sich
an dieses parlamentarische Ereigniß knüpfen, hätten wir vergessen dürfen,
was sonst um uns herum geschah. Unser Dreinreden wäre doch unbeachtet
verhallt.

Heute steht die Sache anders, denn unser Einfluß in der großen Welt,
der von unseren Wünschen und Idealen unabhängigen Realität, ist ein an¬
derer geworden.— Aus der Zahl der internationalen Angelegenheiten, welche
in den letzten vier Wochen zur Verhandlung kamen, tritt uns eine entgegen,
deren wirkliche Bedeutung sich zwar noch nicht feststellen läßt, die im Auge
zu behalten wir aber allen Grund haben: die belgisch-französische Eisenbahn¬
angelegenheit, welche in ein Stadium getreten ist, das die Verkehrtheit der
Zustände und Anschauungen an unserer Westgrenze deutlich illustrirt.

Worum handelt es sich in diesem französisch-belgischen Eisenbahnhandel,
der alle Augenblicke Miene macht, zur internationalen Frage zu werden, ob¬
gleich er im Grunde nicht einmal das ist, was man eine „Frage" nennt? Die
mit der kaiserlichen Regierung ziemlich eng zusammenhängende Gesellschaft
der französischen Ostbahn (Lowps.Anis ü-ardaise 6e l'Lst) fühlte schon seit
lange das Bedürfniß, sich auszudehnen und ihre Netze durch innere wie aus¬
wärtige Maschen zu bereichern. Sie begann damit, im Frühjahr 1868 die
Luxemburger Wilhelmsbahn zu erwerben, welche sich durch das Gebiet jenes
sehnsüchtig begehrten Großherzogthums zieht, dessen Verkauf dem Könige von
Holland vor zwei Jahren untersagt wurde; diese Bahn mündet auf belgi¬
sches Gebiet aus, da sie bis vor die Thore von Spaa sührt. Da diesem
Geschäft weder von belgischer noch von niederländisch-luxemburgischer Seite
Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden waren, so glaubten die französi¬
schen Actionaire, auf dem Wege weiterer Erwerbungen im Auslande vor¬
schreiten zu können, ein Gedanke, der, wie wir annehmen müssen, außerhalb
der Gesellschaft, vielleicht in der Nähe des Tuilerienhofes zuerst entsprungen
war, denn der Zusammenhang der Compagnie mit den Pariser Machthabern
wird von diesen selbst nicht im Ernst geleugnet. Schon sechs Monate nach
dem Ankauf der Wilhelmsbahn wurde der belgischen Gesellschaft des Kraud-
I^uxemdours (Linie Arion-Brüssel) der Vorschlag gemacht, ihr Eigenthum
gleichfalls in französische Hände übergehen zu lassen. Obgleich ein früherer
Minister Leopolds I. und bekannter belgischer Politiker, Victor Tesch, an der
Spitze des Krauä-^uxemdoui-Z steht, fand der von vortheilhaften Be¬
dingungen begleitete Vorschlag bei den Brüsseler Actionairen Beifall, und
vielleicht wäre auch dieses Geschäft in aller Stille abgemacht worden, wenn
die französische Begehrlichkeit sich mit demselben begnügt und nicht gleich¬
zeitig einen zweiten Schritt gethan hätte, der die Aufmerksamkeit des Herrn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/192>, abgerufen am 24.07.2024.