Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Mann, wenn er von der Arbeit zurückkommt, seine Entblößung nicht zu sehr
fühle, damit die Kinder reinlich gehalten werden und weder Frost noch
Hunger leiden. Oft ist in einem Winkel der Dachstube neben der Wiege des
Neugeborenen die Lagerstätte des Großvaters, welcher nach einem harten
Arbeitsleben der Sorge der Seinigen anheimgefallen ist. Die arme Frau,
sie muß für Alles sorgen. Sie ist am Morgen die erste auf, die letzte in der
Nacht zu Bett. Wenn ihr ein Augenblick übrig bleibt, wenn ihre alliäg-
liche Arbeit zu Ende ist, waffnet sie sich mit ihrer Nadel und vervollständigt
und bessert die Kleider der ganzen Familie aus. Sie ist die Vorsehung der
Familie; sie sorgt für die kranken Mitglieder derselben, bittet die Arbeitgeber,
beschwichtigt die Gläubiger, bemüht sich, das Uebermaß der gemeinsamen
Noth zu decken und findet endlich mitten unter diesen Sorgen noch eine Lieb¬
kosung, noch ein Herzenswort, um ihren Mann zu ermuthigen und ihre Kin¬
der zu trösten."

So Jules Simon in seinem bekannten Buche "I,g, ksminiz ouvriers".

Für diese Schilderung ist der Pinsel noch längst nicht in die schwärzeste
Tinte getaucht. Das Bild hat noch seine lichten Seiten. Die Regel ist
viel düsterer. Ich brauchte in dem Buche meiner eigenen Erinnerungen und
Beobachtungen nicht lange zu suchen, um die Motive zu weit traurigeren
Bildern zu finden. Die fabrikative Großindustrie bietet zu solchen Schilderungen
keineswegs den dunkelsten Hintergrund. Die manufacturmäßige Hausindustrie
verdient nur ausnahmsweise, daß man das Schicksal, welches sieden Arbeite¬
rinnen bietet, über die Leiden der Fabrikindustrie stellt. Es würde mich zu
weit führen, wollte ich, damit ich den Beweis dieser Behauptung erbringen
kann, beispielsweise meine Leser bitten, mich in die Hütte einer erzgebirgischen
Spitzenklöpplerin zu geleiten.

Ungemein verschiedenartig ist auch bei uns in Deutschland, trotz im Gan¬
zen doch ziemlich gleichartiger Culturverhältnisse, das Maß der Anforderungen,
welche die Noth oder die Sitte an die Kraft der neben dem Manne im Ge¬
schäftsbetriebe thätigen Ehefrau stellt. Zwar nur ganz ausnahmsweise finden
wir bei uns Zustände, wo die Rollen zwischen Mann und Frau vollständig
vertauscht sind, und der letzteren die schwierigeren und wichtigeren Erwerbs-
functionen obliegen. Im Uebrigen aber sind auch bei uns alle Stufen von
der völlig gleichen Theilung der Erwerbsaufgaben zwischen Mann und Frau
bis zu der nur gelegentlichen und kaum sichtbaren Theilnahme der Frau an
der Erwerbsarbeit vertreten. Im Ganzen finden wir, daß im Norden die
Kräfte der verheiratheten Frauen mehr geschont werden, als in Mittel- und
Süddeutschland. In Sachsen, Thüringen, Schwaben, Bayern, der Pfalz, kann
man wohl auch der mittleren Bäuerin einmal am Pfluge begegnen; in Han¬
nover, Braunschweig, Mecklenburg, Pommern trifft man auch die Klein-


Mann, wenn er von der Arbeit zurückkommt, seine Entblößung nicht zu sehr
fühle, damit die Kinder reinlich gehalten werden und weder Frost noch
Hunger leiden. Oft ist in einem Winkel der Dachstube neben der Wiege des
Neugeborenen die Lagerstätte des Großvaters, welcher nach einem harten
Arbeitsleben der Sorge der Seinigen anheimgefallen ist. Die arme Frau,
sie muß für Alles sorgen. Sie ist am Morgen die erste auf, die letzte in der
Nacht zu Bett. Wenn ihr ein Augenblick übrig bleibt, wenn ihre alliäg-
liche Arbeit zu Ende ist, waffnet sie sich mit ihrer Nadel und vervollständigt
und bessert die Kleider der ganzen Familie aus. Sie ist die Vorsehung der
Familie; sie sorgt für die kranken Mitglieder derselben, bittet die Arbeitgeber,
beschwichtigt die Gläubiger, bemüht sich, das Uebermaß der gemeinsamen
Noth zu decken und findet endlich mitten unter diesen Sorgen noch eine Lieb¬
kosung, noch ein Herzenswort, um ihren Mann zu ermuthigen und ihre Kin¬
der zu trösten."

So Jules Simon in seinem bekannten Buche „I,g, ksminiz ouvriers".

Für diese Schilderung ist der Pinsel noch längst nicht in die schwärzeste
Tinte getaucht. Das Bild hat noch seine lichten Seiten. Die Regel ist
viel düsterer. Ich brauchte in dem Buche meiner eigenen Erinnerungen und
Beobachtungen nicht lange zu suchen, um die Motive zu weit traurigeren
Bildern zu finden. Die fabrikative Großindustrie bietet zu solchen Schilderungen
keineswegs den dunkelsten Hintergrund. Die manufacturmäßige Hausindustrie
verdient nur ausnahmsweise, daß man das Schicksal, welches sieden Arbeite¬
rinnen bietet, über die Leiden der Fabrikindustrie stellt. Es würde mich zu
weit führen, wollte ich, damit ich den Beweis dieser Behauptung erbringen
kann, beispielsweise meine Leser bitten, mich in die Hütte einer erzgebirgischen
Spitzenklöpplerin zu geleiten.

Ungemein verschiedenartig ist auch bei uns in Deutschland, trotz im Gan¬
zen doch ziemlich gleichartiger Culturverhältnisse, das Maß der Anforderungen,
welche die Noth oder die Sitte an die Kraft der neben dem Manne im Ge¬
schäftsbetriebe thätigen Ehefrau stellt. Zwar nur ganz ausnahmsweise finden
wir bei uns Zustände, wo die Rollen zwischen Mann und Frau vollständig
vertauscht sind, und der letzteren die schwierigeren und wichtigeren Erwerbs-
functionen obliegen. Im Uebrigen aber sind auch bei uns alle Stufen von
der völlig gleichen Theilung der Erwerbsaufgaben zwischen Mann und Frau
bis zu der nur gelegentlichen und kaum sichtbaren Theilnahme der Frau an
der Erwerbsarbeit vertreten. Im Ganzen finden wir, daß im Norden die
Kräfte der verheiratheten Frauen mehr geschont werden, als in Mittel- und
Süddeutschland. In Sachsen, Thüringen, Schwaben, Bayern, der Pfalz, kann
man wohl auch der mittleren Bäuerin einmal am Pfluge begegnen; in Han¬
nover, Braunschweig, Mecklenburg, Pommern trifft man auch die Klein-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0135" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120822"/>
          <p xml:id="ID_367" prev="#ID_366"> Mann, wenn er von der Arbeit zurückkommt, seine Entblößung nicht zu sehr<lb/>
fühle, damit die Kinder reinlich gehalten werden und weder Frost noch<lb/>
Hunger leiden. Oft ist in einem Winkel der Dachstube neben der Wiege des<lb/>
Neugeborenen die Lagerstätte des Großvaters, welcher nach einem harten<lb/>
Arbeitsleben der Sorge der Seinigen anheimgefallen ist. Die arme Frau,<lb/>
sie muß für Alles sorgen. Sie ist am Morgen die erste auf, die letzte in der<lb/>
Nacht zu Bett. Wenn ihr ein Augenblick übrig bleibt, wenn ihre alliäg-<lb/>
liche Arbeit zu Ende ist, waffnet sie sich mit ihrer Nadel und vervollständigt<lb/>
und bessert die Kleider der ganzen Familie aus. Sie ist die Vorsehung der<lb/>
Familie; sie sorgt für die kranken Mitglieder derselben, bittet die Arbeitgeber,<lb/>
beschwichtigt die Gläubiger, bemüht sich, das Uebermaß der gemeinsamen<lb/>
Noth zu decken und findet endlich mitten unter diesen Sorgen noch eine Lieb¬<lb/>
kosung, noch ein Herzenswort, um ihren Mann zu ermuthigen und ihre Kin¬<lb/>
der zu trösten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_368"> So Jules Simon in seinem bekannten Buche &#x201E;I,g, ksminiz ouvriers".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_369"> Für diese Schilderung ist der Pinsel noch längst nicht in die schwärzeste<lb/>
Tinte getaucht. Das Bild hat noch seine lichten Seiten. Die Regel ist<lb/>
viel düsterer. Ich brauchte in dem Buche meiner eigenen Erinnerungen und<lb/>
Beobachtungen nicht lange zu suchen, um die Motive zu weit traurigeren<lb/>
Bildern zu finden. Die fabrikative Großindustrie bietet zu solchen Schilderungen<lb/>
keineswegs den dunkelsten Hintergrund. Die manufacturmäßige Hausindustrie<lb/>
verdient nur ausnahmsweise, daß man das Schicksal, welches sieden Arbeite¬<lb/>
rinnen bietet, über die Leiden der Fabrikindustrie stellt. Es würde mich zu<lb/>
weit führen, wollte ich, damit ich den Beweis dieser Behauptung erbringen<lb/>
kann, beispielsweise meine Leser bitten, mich in die Hütte einer erzgebirgischen<lb/>
Spitzenklöpplerin zu geleiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_370" next="#ID_371"> Ungemein verschiedenartig ist auch bei uns in Deutschland, trotz im Gan¬<lb/>
zen doch ziemlich gleichartiger Culturverhältnisse, das Maß der Anforderungen,<lb/>
welche die Noth oder die Sitte an die Kraft der neben dem Manne im Ge¬<lb/>
schäftsbetriebe thätigen Ehefrau stellt. Zwar nur ganz ausnahmsweise finden<lb/>
wir bei uns Zustände, wo die Rollen zwischen Mann und Frau vollständig<lb/>
vertauscht sind, und der letzteren die schwierigeren und wichtigeren Erwerbs-<lb/>
functionen obliegen. Im Uebrigen aber sind auch bei uns alle Stufen von<lb/>
der völlig gleichen Theilung der Erwerbsaufgaben zwischen Mann und Frau<lb/>
bis zu der nur gelegentlichen und kaum sichtbaren Theilnahme der Frau an<lb/>
der Erwerbsarbeit vertreten. Im Ganzen finden wir, daß im Norden die<lb/>
Kräfte der verheiratheten Frauen mehr geschont werden, als in Mittel- und<lb/>
Süddeutschland. In Sachsen, Thüringen, Schwaben, Bayern, der Pfalz, kann<lb/>
man wohl auch der mittleren Bäuerin einmal am Pfluge begegnen; in Han¬<lb/>
nover, Braunschweig, Mecklenburg, Pommern trifft man auch die Klein-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0135] Mann, wenn er von der Arbeit zurückkommt, seine Entblößung nicht zu sehr fühle, damit die Kinder reinlich gehalten werden und weder Frost noch Hunger leiden. Oft ist in einem Winkel der Dachstube neben der Wiege des Neugeborenen die Lagerstätte des Großvaters, welcher nach einem harten Arbeitsleben der Sorge der Seinigen anheimgefallen ist. Die arme Frau, sie muß für Alles sorgen. Sie ist am Morgen die erste auf, die letzte in der Nacht zu Bett. Wenn ihr ein Augenblick übrig bleibt, wenn ihre alliäg- liche Arbeit zu Ende ist, waffnet sie sich mit ihrer Nadel und vervollständigt und bessert die Kleider der ganzen Familie aus. Sie ist die Vorsehung der Familie; sie sorgt für die kranken Mitglieder derselben, bittet die Arbeitgeber, beschwichtigt die Gläubiger, bemüht sich, das Uebermaß der gemeinsamen Noth zu decken und findet endlich mitten unter diesen Sorgen noch eine Lieb¬ kosung, noch ein Herzenswort, um ihren Mann zu ermuthigen und ihre Kin¬ der zu trösten." So Jules Simon in seinem bekannten Buche „I,g, ksminiz ouvriers". Für diese Schilderung ist der Pinsel noch längst nicht in die schwärzeste Tinte getaucht. Das Bild hat noch seine lichten Seiten. Die Regel ist viel düsterer. Ich brauchte in dem Buche meiner eigenen Erinnerungen und Beobachtungen nicht lange zu suchen, um die Motive zu weit traurigeren Bildern zu finden. Die fabrikative Großindustrie bietet zu solchen Schilderungen keineswegs den dunkelsten Hintergrund. Die manufacturmäßige Hausindustrie verdient nur ausnahmsweise, daß man das Schicksal, welches sieden Arbeite¬ rinnen bietet, über die Leiden der Fabrikindustrie stellt. Es würde mich zu weit führen, wollte ich, damit ich den Beweis dieser Behauptung erbringen kann, beispielsweise meine Leser bitten, mich in die Hütte einer erzgebirgischen Spitzenklöpplerin zu geleiten. Ungemein verschiedenartig ist auch bei uns in Deutschland, trotz im Gan¬ zen doch ziemlich gleichartiger Culturverhältnisse, das Maß der Anforderungen, welche die Noth oder die Sitte an die Kraft der neben dem Manne im Ge¬ schäftsbetriebe thätigen Ehefrau stellt. Zwar nur ganz ausnahmsweise finden wir bei uns Zustände, wo die Rollen zwischen Mann und Frau vollständig vertauscht sind, und der letzteren die schwierigeren und wichtigeren Erwerbs- functionen obliegen. Im Uebrigen aber sind auch bei uns alle Stufen von der völlig gleichen Theilung der Erwerbsaufgaben zwischen Mann und Frau bis zu der nur gelegentlichen und kaum sichtbaren Theilnahme der Frau an der Erwerbsarbeit vertreten. Im Ganzen finden wir, daß im Norden die Kräfte der verheiratheten Frauen mehr geschont werden, als in Mittel- und Süddeutschland. In Sachsen, Thüringen, Schwaben, Bayern, der Pfalz, kann man wohl auch der mittleren Bäuerin einmal am Pfluge begegnen; in Han¬ nover, Braunschweig, Mecklenburg, Pommern trifft man auch die Klein-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/135
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/135>, abgerufen am 24.07.2024.