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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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In Wirklichkeit sind wir auch noch keineswegs so weit, daß wir alle
künstlichen Hindernisse der Eheschließung überwunden hätten. Carl Braun's
Schrift 'über "das Zrvangscölibat für Mittellose in Deutschland" belehrt uns
an der Hand der einschlagenden deutschen Landesgesetze, daß in den meisten
Theilen unseres Vaterlandes, namentlich aber im Süden und Südwesten,
zur Zeit der Entschluß der Betheiligten noch einen weitläufigen und bedenk-
Jnstanzenzug zu Passiren hat. und daß diese künstlichen Erschwerungen un¬
sägliches sittliches Unheil anrichten.

Das Leben in der Ehe aber gewährt noch keineswegs überall unseren
Frauen die unserem Ideal entsprechende Stellung. In den wohlhabenderen
Kreisen der Bevölkerung ist die Ehefrau oft nur allzuwenig gebildete Haus¬
frau und Mutter, ohne daß die Zeit, welche der Erfüllung dieser heiligen
Pflichten zu widmen wäre, etwa anderen ernsten und wichtigen Zwecken zu¬
gewendet würde. In den ärmeren Classen der Bevölkerung sehen wir nur
allzuhäufig, daß bittere Noth die Frau ihrem eigentlichen Beruf entfremdet;
da muß die Sorge für die Hauswirthschaft und die Kinderpflege zurückweichen
vor der die Kräfte gänzlich absorbirenden Erwerbsarbeit.

Modelle für die Schilderungen aus -dem Leben einer Fabrikarbeiterin,
wie sie uns Jules Simon in ergreifender Weise vorführt, finden wir auch in
unseren Fabrikvistricten noch massenhaft. Er schildert vergleichsweise noch
glückliche Situationen, Verhältnisse, in denen dem Loose der verheiratheten
Fabrikarbeiterinnen schon einige Sorgfalt zugewendet wurde. Und doch grei¬
sen- uns seine Worte ans Herz. "Was fehlt denn dieser Frau, dieser Mutter
noch, um glücklich zu sein?" -- fragt er. -- "Es fehlt ihr die Gegenwart
ihres Kindes! Wenn in der Welt Alles damit abgemacht wäre, daß man
ein Dach für sein Haupt, Kleider und Nahrung hat, so könnte man gegen
diese Lebensweise nichts sagen. Denn das Brod ist reichlich, die Nahrung
gesund, der Körper wohl. Aber die Seele leidet: denn die Frau wird jeden
Augenblick in ihrer Sittsamkeit verwundet; sie lebt fern von ihrem Ehemanne,
indem sie nicht das Mittagsmahl mit ihm einnimmt und ihn erst Abends
wiederfindet, wenn Beide abgejagt und erschöpft aus ihren Werkstätten kom¬
men. Die Mutter umarmt nicht ihr Kind am hellen Tage, sie verschlingt
es nicht mit ihren sehnsüchtigen Augen; sie ist nicht bei seinem ersten Stam¬
meln zugegen; sie erfreut sich nicht an seinem ersten Lächeln . . . Wenn die
Sittlichkeit ihre Reinheit und Kraft bewahren oder wiederfinden soll, so ist
die erste von allen Bedingungen, daß die Frau zum Herde, die Mutter zur
Wiege zurückkehre. Und selbst dann -- welches Loos, blüht der Arbeiter¬
frau? Die Glücklichen der Welt, welche sich begnügen, die Armen aus der
Entfernung zu unterstützen, haben gar keinen Begriff von der Thätigkeit,
welche eine Familienmutter in ihrer niederen Wirthschaft entfaltet, damit der


In Wirklichkeit sind wir auch noch keineswegs so weit, daß wir alle
künstlichen Hindernisse der Eheschließung überwunden hätten. Carl Braun's
Schrift 'über „das Zrvangscölibat für Mittellose in Deutschland" belehrt uns
an der Hand der einschlagenden deutschen Landesgesetze, daß in den meisten
Theilen unseres Vaterlandes, namentlich aber im Süden und Südwesten,
zur Zeit der Entschluß der Betheiligten noch einen weitläufigen und bedenk-
Jnstanzenzug zu Passiren hat. und daß diese künstlichen Erschwerungen un¬
sägliches sittliches Unheil anrichten.

Das Leben in der Ehe aber gewährt noch keineswegs überall unseren
Frauen die unserem Ideal entsprechende Stellung. In den wohlhabenderen
Kreisen der Bevölkerung ist die Ehefrau oft nur allzuwenig gebildete Haus¬
frau und Mutter, ohne daß die Zeit, welche der Erfüllung dieser heiligen
Pflichten zu widmen wäre, etwa anderen ernsten und wichtigen Zwecken zu¬
gewendet würde. In den ärmeren Classen der Bevölkerung sehen wir nur
allzuhäufig, daß bittere Noth die Frau ihrem eigentlichen Beruf entfremdet;
da muß die Sorge für die Hauswirthschaft und die Kinderpflege zurückweichen
vor der die Kräfte gänzlich absorbirenden Erwerbsarbeit.

Modelle für die Schilderungen aus -dem Leben einer Fabrikarbeiterin,
wie sie uns Jules Simon in ergreifender Weise vorführt, finden wir auch in
unseren Fabrikvistricten noch massenhaft. Er schildert vergleichsweise noch
glückliche Situationen, Verhältnisse, in denen dem Loose der verheiratheten
Fabrikarbeiterinnen schon einige Sorgfalt zugewendet wurde. Und doch grei¬
sen- uns seine Worte ans Herz. „Was fehlt denn dieser Frau, dieser Mutter
noch, um glücklich zu sein?" — fragt er. — „Es fehlt ihr die Gegenwart
ihres Kindes! Wenn in der Welt Alles damit abgemacht wäre, daß man
ein Dach für sein Haupt, Kleider und Nahrung hat, so könnte man gegen
diese Lebensweise nichts sagen. Denn das Brod ist reichlich, die Nahrung
gesund, der Körper wohl. Aber die Seele leidet: denn die Frau wird jeden
Augenblick in ihrer Sittsamkeit verwundet; sie lebt fern von ihrem Ehemanne,
indem sie nicht das Mittagsmahl mit ihm einnimmt und ihn erst Abends
wiederfindet, wenn Beide abgejagt und erschöpft aus ihren Werkstätten kom¬
men. Die Mutter umarmt nicht ihr Kind am hellen Tage, sie verschlingt
es nicht mit ihren sehnsüchtigen Augen; sie ist nicht bei seinem ersten Stam¬
meln zugegen; sie erfreut sich nicht an seinem ersten Lächeln . . . Wenn die
Sittlichkeit ihre Reinheit und Kraft bewahren oder wiederfinden soll, so ist
die erste von allen Bedingungen, daß die Frau zum Herde, die Mutter zur
Wiege zurückkehre. Und selbst dann — welches Loos, blüht der Arbeiter¬
frau? Die Glücklichen der Welt, welche sich begnügen, die Armen aus der
Entfernung zu unterstützen, haben gar keinen Begriff von der Thätigkeit,
welche eine Familienmutter in ihrer niederen Wirthschaft entfaltet, damit der


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[0134] In Wirklichkeit sind wir auch noch keineswegs so weit, daß wir alle künstlichen Hindernisse der Eheschließung überwunden hätten. Carl Braun's Schrift 'über „das Zrvangscölibat für Mittellose in Deutschland" belehrt uns an der Hand der einschlagenden deutschen Landesgesetze, daß in den meisten Theilen unseres Vaterlandes, namentlich aber im Süden und Südwesten, zur Zeit der Entschluß der Betheiligten noch einen weitläufigen und bedenk- Jnstanzenzug zu Passiren hat. und daß diese künstlichen Erschwerungen un¬ sägliches sittliches Unheil anrichten. Das Leben in der Ehe aber gewährt noch keineswegs überall unseren Frauen die unserem Ideal entsprechende Stellung. In den wohlhabenderen Kreisen der Bevölkerung ist die Ehefrau oft nur allzuwenig gebildete Haus¬ frau und Mutter, ohne daß die Zeit, welche der Erfüllung dieser heiligen Pflichten zu widmen wäre, etwa anderen ernsten und wichtigen Zwecken zu¬ gewendet würde. In den ärmeren Classen der Bevölkerung sehen wir nur allzuhäufig, daß bittere Noth die Frau ihrem eigentlichen Beruf entfremdet; da muß die Sorge für die Hauswirthschaft und die Kinderpflege zurückweichen vor der die Kräfte gänzlich absorbirenden Erwerbsarbeit. Modelle für die Schilderungen aus -dem Leben einer Fabrikarbeiterin, wie sie uns Jules Simon in ergreifender Weise vorführt, finden wir auch in unseren Fabrikvistricten noch massenhaft. Er schildert vergleichsweise noch glückliche Situationen, Verhältnisse, in denen dem Loose der verheiratheten Fabrikarbeiterinnen schon einige Sorgfalt zugewendet wurde. Und doch grei¬ sen- uns seine Worte ans Herz. „Was fehlt denn dieser Frau, dieser Mutter noch, um glücklich zu sein?" — fragt er. — „Es fehlt ihr die Gegenwart ihres Kindes! Wenn in der Welt Alles damit abgemacht wäre, daß man ein Dach für sein Haupt, Kleider und Nahrung hat, so könnte man gegen diese Lebensweise nichts sagen. Denn das Brod ist reichlich, die Nahrung gesund, der Körper wohl. Aber die Seele leidet: denn die Frau wird jeden Augenblick in ihrer Sittsamkeit verwundet; sie lebt fern von ihrem Ehemanne, indem sie nicht das Mittagsmahl mit ihm einnimmt und ihn erst Abends wiederfindet, wenn Beide abgejagt und erschöpft aus ihren Werkstätten kom¬ men. Die Mutter umarmt nicht ihr Kind am hellen Tage, sie verschlingt es nicht mit ihren sehnsüchtigen Augen; sie ist nicht bei seinem ersten Stam¬ meln zugegen; sie erfreut sich nicht an seinem ersten Lächeln . . . Wenn die Sittlichkeit ihre Reinheit und Kraft bewahren oder wiederfinden soll, so ist die erste von allen Bedingungen, daß die Frau zum Herde, die Mutter zur Wiege zurückkehre. Und selbst dann — welches Loos, blüht der Arbeiter¬ frau? Die Glücklichen der Welt, welche sich begnügen, die Armen aus der Entfernung zu unterstützen, haben gar keinen Begriff von der Thätigkeit, welche eine Familienmutter in ihrer niederen Wirthschaft entfaltet, damit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/134>, abgerufen am 24.07.2024.