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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Die französischen Emigranten sind nach Herrn M. von Wien nicht zur
Untersuchung und Strafe gezogen worden, weil man die grade damals
aussichtsvolle Sache des Bourbonenthums nicht in den Augen der Welt und
namentlich nicht in den Angen Frankreichs durch ein entehrendes Verbrechen
bloßstellen wollte. Diese Auffassung hält genauerer Betrachtung schlechter¬
dings nicht Stich. Die Sache der Bourbonen konnte nur compromittirt
werden, wenn hochgestellte Personen aus der Umgebung Artois' oder des
Grafen von Provence um den Gesandtenmord gewußt hatten.

Zu dieser Annahme lag aber für den wiener Hof absolut kein Grund
vor; wahrscheinlicher oder mindestens ebenso wahrscheinlich erschien bei dem
Dunkel, das auch für Colleredo über der Sache lag, daß wenn Emigranten
überhaupt betheiligt waren, dieselben dem Auswurf der Emigration ange¬
hörten und auf eigene Hand gemordet hatten. Auf eine Untersuchung dar¬
über konnte die wiener Regierung es immerhin ankommen lassen; da die¬
selbe jedenfalls im Geheimen geführt worden wäre, so war -- wenn man
die Bourbonen wirklich um jeden Preis schonen wollte, -- die Möglichkeit
offen gelassen, die Sache niederzuschlagen, sobald sie für die Prätendenten
gravirende Momente zu Tage förderte. Glaubte man in Wien wirklich
daran, daß verkleidete Franzosen die Mörder gewesen, so hätte man es sicher
auf eine wenigstens vorläufige Verfolgung der Sache ankommen lassen und
sich allendliche Schritte je nach dem Ausfall derselben vorbehalten. Nach der
Mendelssohn'schen Darstellung steht die Sache aber so. daß das wiener Cabinet
aus Besorgniß vor möglicher Compromittirung der Bourbonen, jede
Untersuchung aufgegeben, die Vergehungen seiner eigenen Soldaten ungestraft
gelassen und lieber den Schein eines bösen Gewissens auf sich genommen
haben soll, als in der Sache nur einen Finger zu regen! Das hieße in
der That mit zarten Rücksichten über die Grenzen aller gesunden Vernunft
und alles politischen Anstandsgefühls hinausgehen! Um einem abhängigen
Bundesgenossen mögliche Schande zu ersparen, compromittirt man sich selbst
und läßt man die eigenen, von jenen in ein Verbrechen gezogenen Subalternen
ohne Strafe, ja ohne Feststellung des Maßes ihrer Schuld laufen! Die
Gründe, aus denen man die Emigranten schuldig glaubt, sollen so schwer
wiegen, daß man eine Untersuchung für überflüssig hält, und doch wagt der
kaiserliche Minister nicht einmal in einem geheimen Memoire deutlich zu
sagen, daß und welche Emigranten man für schuldig hält.

Das ist zu stark, um überhaupt, geschweige denn um aus so hinfälligen
Gründen geglaubt zu werden, wie denen, welche die vorliegende Schrift ins
Treffen geführt hat. So unbewiesen die alte Hypothese von der Schuld
Lehrbach's ist, sie erscheint immer noch wahrscheinlicher, als die Behauptung.
Oestreich habe sich freiwillig sichere Schmach aufbürden lassen, um den


Die französischen Emigranten sind nach Herrn M. von Wien nicht zur
Untersuchung und Strafe gezogen worden, weil man die grade damals
aussichtsvolle Sache des Bourbonenthums nicht in den Augen der Welt und
namentlich nicht in den Angen Frankreichs durch ein entehrendes Verbrechen
bloßstellen wollte. Diese Auffassung hält genauerer Betrachtung schlechter¬
dings nicht Stich. Die Sache der Bourbonen konnte nur compromittirt
werden, wenn hochgestellte Personen aus der Umgebung Artois' oder des
Grafen von Provence um den Gesandtenmord gewußt hatten.

Zu dieser Annahme lag aber für den wiener Hof absolut kein Grund
vor; wahrscheinlicher oder mindestens ebenso wahrscheinlich erschien bei dem
Dunkel, das auch für Colleredo über der Sache lag, daß wenn Emigranten
überhaupt betheiligt waren, dieselben dem Auswurf der Emigration ange¬
hörten und auf eigene Hand gemordet hatten. Auf eine Untersuchung dar¬
über konnte die wiener Regierung es immerhin ankommen lassen; da die¬
selbe jedenfalls im Geheimen geführt worden wäre, so war — wenn man
die Bourbonen wirklich um jeden Preis schonen wollte, — die Möglichkeit
offen gelassen, die Sache niederzuschlagen, sobald sie für die Prätendenten
gravirende Momente zu Tage förderte. Glaubte man in Wien wirklich
daran, daß verkleidete Franzosen die Mörder gewesen, so hätte man es sicher
auf eine wenigstens vorläufige Verfolgung der Sache ankommen lassen und
sich allendliche Schritte je nach dem Ausfall derselben vorbehalten. Nach der
Mendelssohn'schen Darstellung steht die Sache aber so. daß das wiener Cabinet
aus Besorgniß vor möglicher Compromittirung der Bourbonen, jede
Untersuchung aufgegeben, die Vergehungen seiner eigenen Soldaten ungestraft
gelassen und lieber den Schein eines bösen Gewissens auf sich genommen
haben soll, als in der Sache nur einen Finger zu regen! Das hieße in
der That mit zarten Rücksichten über die Grenzen aller gesunden Vernunft
und alles politischen Anstandsgefühls hinausgehen! Um einem abhängigen
Bundesgenossen mögliche Schande zu ersparen, compromittirt man sich selbst
und läßt man die eigenen, von jenen in ein Verbrechen gezogenen Subalternen
ohne Strafe, ja ohne Feststellung des Maßes ihrer Schuld laufen! Die
Gründe, aus denen man die Emigranten schuldig glaubt, sollen so schwer
wiegen, daß man eine Untersuchung für überflüssig hält, und doch wagt der
kaiserliche Minister nicht einmal in einem geheimen Memoire deutlich zu
sagen, daß und welche Emigranten man für schuldig hält.

Das ist zu stark, um überhaupt, geschweige denn um aus so hinfälligen
Gründen geglaubt zu werden, wie denen, welche die vorliegende Schrift ins
Treffen geführt hat. So unbewiesen die alte Hypothese von der Schuld
Lehrbach's ist, sie erscheint immer noch wahrscheinlicher, als die Behauptung.
Oestreich habe sich freiwillig sichere Schmach aufbürden lassen, um den


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[0468] Die französischen Emigranten sind nach Herrn M. von Wien nicht zur Untersuchung und Strafe gezogen worden, weil man die grade damals aussichtsvolle Sache des Bourbonenthums nicht in den Augen der Welt und namentlich nicht in den Angen Frankreichs durch ein entehrendes Verbrechen bloßstellen wollte. Diese Auffassung hält genauerer Betrachtung schlechter¬ dings nicht Stich. Die Sache der Bourbonen konnte nur compromittirt werden, wenn hochgestellte Personen aus der Umgebung Artois' oder des Grafen von Provence um den Gesandtenmord gewußt hatten. Zu dieser Annahme lag aber für den wiener Hof absolut kein Grund vor; wahrscheinlicher oder mindestens ebenso wahrscheinlich erschien bei dem Dunkel, das auch für Colleredo über der Sache lag, daß wenn Emigranten überhaupt betheiligt waren, dieselben dem Auswurf der Emigration ange¬ hörten und auf eigene Hand gemordet hatten. Auf eine Untersuchung dar¬ über konnte die wiener Regierung es immerhin ankommen lassen; da die¬ selbe jedenfalls im Geheimen geführt worden wäre, so war — wenn man die Bourbonen wirklich um jeden Preis schonen wollte, — die Möglichkeit offen gelassen, die Sache niederzuschlagen, sobald sie für die Prätendenten gravirende Momente zu Tage förderte. Glaubte man in Wien wirklich daran, daß verkleidete Franzosen die Mörder gewesen, so hätte man es sicher auf eine wenigstens vorläufige Verfolgung der Sache ankommen lassen und sich allendliche Schritte je nach dem Ausfall derselben vorbehalten. Nach der Mendelssohn'schen Darstellung steht die Sache aber so. daß das wiener Cabinet aus Besorgniß vor möglicher Compromittirung der Bourbonen, jede Untersuchung aufgegeben, die Vergehungen seiner eigenen Soldaten ungestraft gelassen und lieber den Schein eines bösen Gewissens auf sich genommen haben soll, als in der Sache nur einen Finger zu regen! Das hieße in der That mit zarten Rücksichten über die Grenzen aller gesunden Vernunft und alles politischen Anstandsgefühls hinausgehen! Um einem abhängigen Bundesgenossen mögliche Schande zu ersparen, compromittirt man sich selbst und läßt man die eigenen, von jenen in ein Verbrechen gezogenen Subalternen ohne Strafe, ja ohne Feststellung des Maßes ihrer Schuld laufen! Die Gründe, aus denen man die Emigranten schuldig glaubt, sollen so schwer wiegen, daß man eine Untersuchung für überflüssig hält, und doch wagt der kaiserliche Minister nicht einmal in einem geheimen Memoire deutlich zu sagen, daß und welche Emigranten man für schuldig hält. Das ist zu stark, um überhaupt, geschweige denn um aus so hinfälligen Gründen geglaubt zu werden, wie denen, welche die vorliegende Schrift ins Treffen geführt hat. So unbewiesen die alte Hypothese von der Schuld Lehrbach's ist, sie erscheint immer noch wahrscheinlicher, als die Behauptung. Oestreich habe sich freiwillig sichere Schmach aufbürden lassen, um den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/468>, abgerufen am 28.09.2024.