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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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wohnt haben. Die Vertreter der reinen Demokratie haben darin Kräh¬
winkelei und Commerages gewittert. Mir ist keinen Augenblick zweifelhaft,
daß die Massenherrschaft nirgend unfähiger und nirgend gefährlicher ist, als auf
dem Gebiete der Gemeindefreiheit. Die deutschen Städte haben ihre glänzendste
Zeit unter dem Regiment der vereinigten Patricier und Zunfmeister gehabt,
und ich finde auch heute nichts Ungesundes darin, wenn ein gewisser Kreis
angesehener, mit den Interessen des städtischen Gemeinwesens eng ver¬
wachsener Familien maßgebenden Einfluß in der Stadtverwaltung aus¬
übt. Die Gefahren einer Verknöcherung und eines verderbten Nepotis¬
mus haften der Oligarchie freilich immer an, und es ließen sich dafür auch
in Schleswig-Holstein unerfreuliche Beispiele aufweisen. Aber die Gefahr
vollständiger Aufsaugung jeglicher communaler Autonomie durch die moderne
Staatsallgewalt ist in der Gegenwart die unheilvollste von allen, und dieser
leistet eine im modernen wirthschaftlichen Leben ohnehin immer nur sehr mo-
derirte städtische Oligarchie entschieden unendlich kräftigeren Widerstand, als
die losen demokratischen Haufen städtischer Bezirksvereine und aus ihnen her¬
vorgegangener Stadtverordnetenclubs. Wohin die moderne Demokratie der
Städte führt, zeigt die heutige Munizipalverfassung von Paris. Das Walten
eines lebendigen, energischen, aufopferungsfähigen Gemeinsinns bleibt freilich
überall die Hauptsache, und die Gesetzgebung kann herzlich wenig dazu thun,
um diese moralischen Elemente, wo sie fehlen, zu schaffen. Wo sie aber, sei
es im Großen, sei es in kleinen Kreisen, vorhanden sind -- und noch sind
sie in Schleswig-Holstein vorhanden -- da bescheide man sich, sie in ihrer Art
gewähren zu lassen. -- Endlich hat unsere Städteordnung vor der der alten
Provinzen ein sehr schätzenswerthes Stück Unabhängigkeit von der staatlichen
Regierungsgewalt voraus errungen. Die staatliche Einmischung im Falle
eines Dissenses zwischen den städtischen Collegien ist beseitigt, und das Recht
des Staates, unter dem Titel der Polizeigewalt den größeren Städten den
Lebensnerv des Selfgovernments durch staatliche Polizeibehörden abzuschneiden,
zwar nicht in der vom Abgeordnetenhause Anfangs geforderten Weise besei¬
tigt, aber doch einigermaßen beschränkt. Es gibt in der heutigen Realpolitik
kaum einen verschwommeneren Begriff von verhängnißvollerer Bedeutung
für die freiheitliche Entwickelung staatlichen Lebens, als der der Polizei, und
keinen wunderen Fleck in dem Verhältniß der Gemeinden zum Staate in
Deutschland, als den, wo die Ansprüche moderner Polizeigewalt mit der com-
munalen Autonomie zusammentreffen. Man muß es schon als Gewinn rend,
nen. daß man bet dieser Gelegenheit wenigstens theoretisch die Forderung
aufgestellt hat, nur die Sicherheitspolizei gehöre zu den Bestandtheilen
der Staatshoheit, alle sonstige sogenannte Polizeigewalt gebühre der Ge¬
meinde. Dahlmann glaubte in seiner "Politik" die Stein'sche Städteordnung


wohnt haben. Die Vertreter der reinen Demokratie haben darin Kräh¬
winkelei und Commerages gewittert. Mir ist keinen Augenblick zweifelhaft,
daß die Massenherrschaft nirgend unfähiger und nirgend gefährlicher ist, als auf
dem Gebiete der Gemeindefreiheit. Die deutschen Städte haben ihre glänzendste
Zeit unter dem Regiment der vereinigten Patricier und Zunfmeister gehabt,
und ich finde auch heute nichts Ungesundes darin, wenn ein gewisser Kreis
angesehener, mit den Interessen des städtischen Gemeinwesens eng ver¬
wachsener Familien maßgebenden Einfluß in der Stadtverwaltung aus¬
übt. Die Gefahren einer Verknöcherung und eines verderbten Nepotis¬
mus haften der Oligarchie freilich immer an, und es ließen sich dafür auch
in Schleswig-Holstein unerfreuliche Beispiele aufweisen. Aber die Gefahr
vollständiger Aufsaugung jeglicher communaler Autonomie durch die moderne
Staatsallgewalt ist in der Gegenwart die unheilvollste von allen, und dieser
leistet eine im modernen wirthschaftlichen Leben ohnehin immer nur sehr mo-
derirte städtische Oligarchie entschieden unendlich kräftigeren Widerstand, als
die losen demokratischen Haufen städtischer Bezirksvereine und aus ihnen her¬
vorgegangener Stadtverordnetenclubs. Wohin die moderne Demokratie der
Städte führt, zeigt die heutige Munizipalverfassung von Paris. Das Walten
eines lebendigen, energischen, aufopferungsfähigen Gemeinsinns bleibt freilich
überall die Hauptsache, und die Gesetzgebung kann herzlich wenig dazu thun,
um diese moralischen Elemente, wo sie fehlen, zu schaffen. Wo sie aber, sei
es im Großen, sei es in kleinen Kreisen, vorhanden sind — und noch sind
sie in Schleswig-Holstein vorhanden — da bescheide man sich, sie in ihrer Art
gewähren zu lassen. — Endlich hat unsere Städteordnung vor der der alten
Provinzen ein sehr schätzenswerthes Stück Unabhängigkeit von der staatlichen
Regierungsgewalt voraus errungen. Die staatliche Einmischung im Falle
eines Dissenses zwischen den städtischen Collegien ist beseitigt, und das Recht
des Staates, unter dem Titel der Polizeigewalt den größeren Städten den
Lebensnerv des Selfgovernments durch staatliche Polizeibehörden abzuschneiden,
zwar nicht in der vom Abgeordnetenhause Anfangs geforderten Weise besei¬
tigt, aber doch einigermaßen beschränkt. Es gibt in der heutigen Realpolitik
kaum einen verschwommeneren Begriff von verhängnißvollerer Bedeutung
für die freiheitliche Entwickelung staatlichen Lebens, als der der Polizei, und
keinen wunderen Fleck in dem Verhältniß der Gemeinden zum Staate in
Deutschland, als den, wo die Ansprüche moderner Polizeigewalt mit der com-
munalen Autonomie zusammentreffen. Man muß es schon als Gewinn rend,
nen. daß man bet dieser Gelegenheit wenigstens theoretisch die Forderung
aufgestellt hat, nur die Sicherheitspolizei gehöre zu den Bestandtheilen
der Staatshoheit, alle sonstige sogenannte Polizeigewalt gebühre der Ge¬
meinde. Dahlmann glaubte in seiner „Politik" die Stein'sche Städteordnung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/454>, abgerufen am 28.09.2024.