Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sanctioniren; Preußen dürfte sich nicht beklagen, wenn der Welfenkönig an
der mährischen Grenze ein Corps ausrüstete, Frankreich nicht, wenn die
Legitimisten sich in Coblenz zu einem Einfall sammelten. Im Gegentheil ist
die Ausrüstung von Freiwilligen und Schiffen zu Gunsten eines Feindes
oder Aufstandes stets als oasus delli behandelt worden, so lange man Völker¬
recht kennt; es war daher nicht zu verwundern, daß die Pforte nach dieser
Antwort die diplomatischen Beziehungen abbrach: es war das Einzige was
ihr übrig blieb. Andrerseits scheint die Aufregung in Athen auf einen
Punkt gestiegen, daß Nachgeben keinem Ministerium möglich war und wohl
den Sturz der Dynastie nach sich gezogen hätte.

Es fragt sich nur worauf die Griechen rechnen, indem sie die Miliz
mobilisiren, die Häfen befestigen und die Feindseligkeiten zu eröffnen ver¬
langen. Schwerlich können sie sich doch darüber täuschen, daß sie, sich selbst
überlassen, den Türken nicht lange Widerstand leisten können: ihre reguläre
Armee ist unbedeutend und unerprobt und wenn sie hoffen, daß die Rajah
im Gebiet der Pforte sich für sie erheben werde, so steht ihnen eine gründ¬
liche Enttäuschung bevor; haben doch alle Actionscomitcs sich seit zwei Jahren
vergeblich bemüht, in Thessalien und Epirus einen Aufstand hervorzurufen:
die Thessalioten kennen von 1854 her die Segnungen eines griechischen Ein¬
falles und sandten eine Deputation nach Constantinopel um sich Schutz zu
erbitten. Es bleibt also als Stütze nur Rußland oder die Hoffnung eines
allgemeinen europäischen Conflicts. Nun ist es allerdings eine sehr schwierige
Sache für Rußland, einer Niederlage seines erklärten Schützlings passiv zu¬
zusehen, weil seine orientalische Zukunftspolitik einen empfindlichen Schlag
erleiden würde, wenn die orthodoxe Welt seine Ohnmacht erkennt dein
Glaubensgenossen gegen den Halbmond zu helfen. Und doch ist Rußland
nicht in der Lage activ zu interveniren, wenn es nicht entschlossen ist, die
Sache auf einen allgemeinen Krieg ankommen zu lassen.

Alle Anzeichen deuten darauf, daß England, Frankreich und Oestreich,
die 1856 den Sonderbund des Mißtrauens schlössen, durch den jeder Angriff
auf die Integrität der Pforte als Kriegsfall hingestellt ward, auch jetzt im
Orient zusammengehen. Was Frankreich und Oestreich betrifft, so datirt
ihre gemeinsame östliche Politik von der salzburger Zusammenkunft, wo
G. Beust jede Action gegen Deutschland ablehnen zu müssen glaubte, weil
Oestreich dazu nicht fähig sei, aber auf den Orient und Rußlands Propaganda
hinwies, welche den Bestand des Kaiserstaats in Frage stelle. Von da an
erhielt bei Napoleon, dessen Bemühungen Rußland gegen Preußen zu ge¬
winnen so ganz fruchtlos geblieben waren, die frühere türkenfreundliche
Richtung wieder das Uebergewicht und es ist keineswegs zufällig oder ohne
Bedeutung, daß in dem Augenblick, wo die Dinge in der Levante eine acute


5*

sanctioniren; Preußen dürfte sich nicht beklagen, wenn der Welfenkönig an
der mährischen Grenze ein Corps ausrüstete, Frankreich nicht, wenn die
Legitimisten sich in Coblenz zu einem Einfall sammelten. Im Gegentheil ist
die Ausrüstung von Freiwilligen und Schiffen zu Gunsten eines Feindes
oder Aufstandes stets als oasus delli behandelt worden, so lange man Völker¬
recht kennt; es war daher nicht zu verwundern, daß die Pforte nach dieser
Antwort die diplomatischen Beziehungen abbrach: es war das Einzige was
ihr übrig blieb. Andrerseits scheint die Aufregung in Athen auf einen
Punkt gestiegen, daß Nachgeben keinem Ministerium möglich war und wohl
den Sturz der Dynastie nach sich gezogen hätte.

Es fragt sich nur worauf die Griechen rechnen, indem sie die Miliz
mobilisiren, die Häfen befestigen und die Feindseligkeiten zu eröffnen ver¬
langen. Schwerlich können sie sich doch darüber täuschen, daß sie, sich selbst
überlassen, den Türken nicht lange Widerstand leisten können: ihre reguläre
Armee ist unbedeutend und unerprobt und wenn sie hoffen, daß die Rajah
im Gebiet der Pforte sich für sie erheben werde, so steht ihnen eine gründ¬
liche Enttäuschung bevor; haben doch alle Actionscomitcs sich seit zwei Jahren
vergeblich bemüht, in Thessalien und Epirus einen Aufstand hervorzurufen:
die Thessalioten kennen von 1854 her die Segnungen eines griechischen Ein¬
falles und sandten eine Deputation nach Constantinopel um sich Schutz zu
erbitten. Es bleibt also als Stütze nur Rußland oder die Hoffnung eines
allgemeinen europäischen Conflicts. Nun ist es allerdings eine sehr schwierige
Sache für Rußland, einer Niederlage seines erklärten Schützlings passiv zu¬
zusehen, weil seine orientalische Zukunftspolitik einen empfindlichen Schlag
erleiden würde, wenn die orthodoxe Welt seine Ohnmacht erkennt dein
Glaubensgenossen gegen den Halbmond zu helfen. Und doch ist Rußland
nicht in der Lage activ zu interveniren, wenn es nicht entschlossen ist, die
Sache auf einen allgemeinen Krieg ankommen zu lassen.

Alle Anzeichen deuten darauf, daß England, Frankreich und Oestreich,
die 1856 den Sonderbund des Mißtrauens schlössen, durch den jeder Angriff
auf die Integrität der Pforte als Kriegsfall hingestellt ward, auch jetzt im
Orient zusammengehen. Was Frankreich und Oestreich betrifft, so datirt
ihre gemeinsame östliche Politik von der salzburger Zusammenkunft, wo
G. Beust jede Action gegen Deutschland ablehnen zu müssen glaubte, weil
Oestreich dazu nicht fähig sei, aber auf den Orient und Rußlands Propaganda
hinwies, welche den Bestand des Kaiserstaats in Frage stelle. Von da an
erhielt bei Napoleon, dessen Bemühungen Rußland gegen Preußen zu ge¬
winnen so ganz fruchtlos geblieben waren, die frühere türkenfreundliche
Richtung wieder das Uebergewicht und es ist keineswegs zufällig oder ohne
Bedeutung, daß in dem Augenblick, wo die Dinge in der Levante eine acute


5*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0045" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120234"/>
          <p xml:id="ID_112" prev="#ID_111"> sanctioniren; Preußen dürfte sich nicht beklagen, wenn der Welfenkönig an<lb/>
der mährischen Grenze ein Corps ausrüstete, Frankreich nicht, wenn die<lb/>
Legitimisten sich in Coblenz zu einem Einfall sammelten. Im Gegentheil ist<lb/>
die Ausrüstung von Freiwilligen und Schiffen zu Gunsten eines Feindes<lb/>
oder Aufstandes stets als oasus delli behandelt worden, so lange man Völker¬<lb/>
recht kennt; es war daher nicht zu verwundern, daß die Pforte nach dieser<lb/>
Antwort die diplomatischen Beziehungen abbrach: es war das Einzige was<lb/>
ihr übrig blieb. Andrerseits scheint die Aufregung in Athen auf einen<lb/>
Punkt gestiegen, daß Nachgeben keinem Ministerium möglich war und wohl<lb/>
den Sturz der Dynastie nach sich gezogen hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_113"> Es fragt sich nur worauf die Griechen rechnen, indem sie die Miliz<lb/>
mobilisiren, die Häfen befestigen und die Feindseligkeiten zu eröffnen ver¬<lb/>
langen. Schwerlich können sie sich doch darüber täuschen, daß sie, sich selbst<lb/>
überlassen, den Türken nicht lange Widerstand leisten können: ihre reguläre<lb/>
Armee ist unbedeutend und unerprobt und wenn sie hoffen, daß die Rajah<lb/>
im Gebiet der Pforte sich für sie erheben werde, so steht ihnen eine gründ¬<lb/>
liche Enttäuschung bevor; haben doch alle Actionscomitcs sich seit zwei Jahren<lb/>
vergeblich bemüht, in Thessalien und Epirus einen Aufstand hervorzurufen:<lb/>
die Thessalioten kennen von 1854 her die Segnungen eines griechischen Ein¬<lb/>
falles und sandten eine Deputation nach Constantinopel um sich Schutz zu<lb/>
erbitten. Es bleibt also als Stütze nur Rußland oder die Hoffnung eines<lb/>
allgemeinen europäischen Conflicts. Nun ist es allerdings eine sehr schwierige<lb/>
Sache für Rußland, einer Niederlage seines erklärten Schützlings passiv zu¬<lb/>
zusehen, weil seine orientalische Zukunftspolitik einen empfindlichen Schlag<lb/>
erleiden würde, wenn die orthodoxe Welt seine Ohnmacht erkennt dein<lb/>
Glaubensgenossen gegen den Halbmond zu helfen. Und doch ist Rußland<lb/>
nicht in der Lage activ zu interveniren, wenn es nicht entschlossen ist, die<lb/>
Sache auf einen allgemeinen Krieg ankommen zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_114" next="#ID_115"> Alle Anzeichen deuten darauf, daß England, Frankreich und Oestreich,<lb/>
die 1856 den Sonderbund des Mißtrauens schlössen, durch den jeder Angriff<lb/>
auf die Integrität der Pforte als Kriegsfall hingestellt ward, auch jetzt im<lb/>
Orient zusammengehen. Was Frankreich und Oestreich betrifft, so datirt<lb/>
ihre gemeinsame östliche Politik von der salzburger Zusammenkunft, wo<lb/>
G. Beust jede Action gegen Deutschland ablehnen zu müssen glaubte, weil<lb/>
Oestreich dazu nicht fähig sei, aber auf den Orient und Rußlands Propaganda<lb/>
hinwies, welche den Bestand des Kaiserstaats in Frage stelle. Von da an<lb/>
erhielt bei Napoleon, dessen Bemühungen Rußland gegen Preußen zu ge¬<lb/>
winnen so ganz fruchtlos geblieben waren, die frühere türkenfreundliche<lb/>
Richtung wieder das Uebergewicht und es ist keineswegs zufällig oder ohne<lb/>
Bedeutung, daß in dem Augenblick, wo die Dinge in der Levante eine acute</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 5*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0045] sanctioniren; Preußen dürfte sich nicht beklagen, wenn der Welfenkönig an der mährischen Grenze ein Corps ausrüstete, Frankreich nicht, wenn die Legitimisten sich in Coblenz zu einem Einfall sammelten. Im Gegentheil ist die Ausrüstung von Freiwilligen und Schiffen zu Gunsten eines Feindes oder Aufstandes stets als oasus delli behandelt worden, so lange man Völker¬ recht kennt; es war daher nicht zu verwundern, daß die Pforte nach dieser Antwort die diplomatischen Beziehungen abbrach: es war das Einzige was ihr übrig blieb. Andrerseits scheint die Aufregung in Athen auf einen Punkt gestiegen, daß Nachgeben keinem Ministerium möglich war und wohl den Sturz der Dynastie nach sich gezogen hätte. Es fragt sich nur worauf die Griechen rechnen, indem sie die Miliz mobilisiren, die Häfen befestigen und die Feindseligkeiten zu eröffnen ver¬ langen. Schwerlich können sie sich doch darüber täuschen, daß sie, sich selbst überlassen, den Türken nicht lange Widerstand leisten können: ihre reguläre Armee ist unbedeutend und unerprobt und wenn sie hoffen, daß die Rajah im Gebiet der Pforte sich für sie erheben werde, so steht ihnen eine gründ¬ liche Enttäuschung bevor; haben doch alle Actionscomitcs sich seit zwei Jahren vergeblich bemüht, in Thessalien und Epirus einen Aufstand hervorzurufen: die Thessalioten kennen von 1854 her die Segnungen eines griechischen Ein¬ falles und sandten eine Deputation nach Constantinopel um sich Schutz zu erbitten. Es bleibt also als Stütze nur Rußland oder die Hoffnung eines allgemeinen europäischen Conflicts. Nun ist es allerdings eine sehr schwierige Sache für Rußland, einer Niederlage seines erklärten Schützlings passiv zu¬ zusehen, weil seine orientalische Zukunftspolitik einen empfindlichen Schlag erleiden würde, wenn die orthodoxe Welt seine Ohnmacht erkennt dein Glaubensgenossen gegen den Halbmond zu helfen. Und doch ist Rußland nicht in der Lage activ zu interveniren, wenn es nicht entschlossen ist, die Sache auf einen allgemeinen Krieg ankommen zu lassen. Alle Anzeichen deuten darauf, daß England, Frankreich und Oestreich, die 1856 den Sonderbund des Mißtrauens schlössen, durch den jeder Angriff auf die Integrität der Pforte als Kriegsfall hingestellt ward, auch jetzt im Orient zusammengehen. Was Frankreich und Oestreich betrifft, so datirt ihre gemeinsame östliche Politik von der salzburger Zusammenkunft, wo G. Beust jede Action gegen Deutschland ablehnen zu müssen glaubte, weil Oestreich dazu nicht fähig sei, aber auf den Orient und Rußlands Propaganda hinwies, welche den Bestand des Kaiserstaats in Frage stelle. Von da an erhielt bei Napoleon, dessen Bemühungen Rußland gegen Preußen zu ge¬ winnen so ganz fruchtlos geblieben waren, die frühere türkenfreundliche Richtung wieder das Uebergewicht und es ist keineswegs zufällig oder ohne Bedeutung, daß in dem Augenblick, wo die Dinge in der Levante eine acute 5*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/45
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/45>, abgerufen am 28.09.2024.