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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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die Universität zähle etwa 10,000 Studenten, ein Pedell gab die Ziffer auf
6-8000 an, in der Stadt sprach man von 6--6000. Man weiß es nicht.
Jener amüsante Ehrgeiz unserer guten deutschen Universitäten, welche sofort
nach Abschluß ihrer Verzeichnisse (in welche, was irgend mit Ehren angeht,
als "Philosoph" eingeschmuggelt wird) die erreichte Ziffer in den Blättern
bekannt machen, wenn sie nämlich einigermaßen günstig erscheint, er fehlt hier
ganz. Die Studenten oder "Ziovinotti" wie sie in den Affichen genannt
werden, stehen außerhalb der Corporation, sie sind gar nicht inscribirt; Jeder
ist Student und Keiner ist es; ein Nachweis wissenschaftlicher Befähigung
wird von den Besuchern der Vorlesungen nicht verlangt. Hier existirt also die
akademische Freiheit in Form absoluter Voraussetzungslosigkeit. Das möchte
manchem deutschen Akademiker erbaulich klingen, in der Nähe sieht sich's aber
nicht sonderlich an. Das akademische Publicum ist ein aus allen Lebens¬
sphären, aus allen Bildungsgraden zusammengelaufenes; es gibt unter diesen
tausend Einzelnen zu wenig Elemente der Gleichartigkeit und der Ueberein¬
stimmung, als daß sie sich als eine Gemeinschaft empfinden und einen ge¬
meinsamen Geist darstellen könnten. So geht ihnen der Segen der Charakter¬
bildung, des wissenschaftlichen Wetteifers und der Poesie verloren, den --
bei allen seinen komischen Sonderbarkeiten -- das akademische Genossen¬
schafsleben in Deutschland gewährt. Es wird Einem beim Anblick dieser
italienischen giovinötti recht philisterhaft zu Muthe.

Wir besuchten eine juristische Vorlesung. Die Thür blieb offen, der
Lärm des Hofes und der Corridors drang hinein, es ging wie in einem
Taubenschlage ab und zu. Gegen hundert Zuhörer umlagerten das Kathe¬
der des Professors, Alle -- mit Ausnahme des Professors -- hatten die
Hüte auf, Einige rauchten, Andere bespuckten auf gute Matrosenmanier den
Boden. Einen Text hatten kaum Zwanzig mit sich und nur die Allerwenigsten
machten Notizen. Der sehr lebendige Vortrag schien hie und da an Floskeln
zu leiden und war zur wenig präcis; aber ich habe überhaupt keine Vor¬
stellung davon, wie man eine Versammlung unterrichten soll, deren Bildungs¬
stand nicht ungefähr gleichartig ist, und deren geistigen Durchschnittszustand
man nicht kennt.

Wie kann der Staat, dem die Universität schließlich Gelo genug kostet,
hoffen, mit so lockeren unzulänglichen Einrichtungen sich brauchbare Beamte
zu erziehen? Ohne positive Kenntnisse, wie die Meisten dieser zukünftigen
Staatsdiener bleiben, kommen sie demnächst in die Lage, die verwickelten
Fragen der Praxis mit allzu allgemeinen und dürftigen Theorien behandeln
zu müssen -- eine der schwersten Hemmungen für einen Staat, der aus
einem kleinen ein großer werden will. Was hilft da die natürliche Intelli¬
genz der Italiener, die man so vielfach preisen hört? Das Volk hat keine


Grenzboten I. 1869. 44

die Universität zähle etwa 10,000 Studenten, ein Pedell gab die Ziffer auf
6-8000 an, in der Stadt sprach man von 6—6000. Man weiß es nicht.
Jener amüsante Ehrgeiz unserer guten deutschen Universitäten, welche sofort
nach Abschluß ihrer Verzeichnisse (in welche, was irgend mit Ehren angeht,
als „Philosoph" eingeschmuggelt wird) die erreichte Ziffer in den Blättern
bekannt machen, wenn sie nämlich einigermaßen günstig erscheint, er fehlt hier
ganz. Die Studenten oder „Ziovinotti" wie sie in den Affichen genannt
werden, stehen außerhalb der Corporation, sie sind gar nicht inscribirt; Jeder
ist Student und Keiner ist es; ein Nachweis wissenschaftlicher Befähigung
wird von den Besuchern der Vorlesungen nicht verlangt. Hier existirt also die
akademische Freiheit in Form absoluter Voraussetzungslosigkeit. Das möchte
manchem deutschen Akademiker erbaulich klingen, in der Nähe sieht sich's aber
nicht sonderlich an. Das akademische Publicum ist ein aus allen Lebens¬
sphären, aus allen Bildungsgraden zusammengelaufenes; es gibt unter diesen
tausend Einzelnen zu wenig Elemente der Gleichartigkeit und der Ueberein¬
stimmung, als daß sie sich als eine Gemeinschaft empfinden und einen ge¬
meinsamen Geist darstellen könnten. So geht ihnen der Segen der Charakter¬
bildung, des wissenschaftlichen Wetteifers und der Poesie verloren, den —
bei allen seinen komischen Sonderbarkeiten — das akademische Genossen¬
schafsleben in Deutschland gewährt. Es wird Einem beim Anblick dieser
italienischen giovinötti recht philisterhaft zu Muthe.

Wir besuchten eine juristische Vorlesung. Die Thür blieb offen, der
Lärm des Hofes und der Corridors drang hinein, es ging wie in einem
Taubenschlage ab und zu. Gegen hundert Zuhörer umlagerten das Kathe¬
der des Professors, Alle — mit Ausnahme des Professors — hatten die
Hüte auf, Einige rauchten, Andere bespuckten auf gute Matrosenmanier den
Boden. Einen Text hatten kaum Zwanzig mit sich und nur die Allerwenigsten
machten Notizen. Der sehr lebendige Vortrag schien hie und da an Floskeln
zu leiden und war zur wenig präcis; aber ich habe überhaupt keine Vor¬
stellung davon, wie man eine Versammlung unterrichten soll, deren Bildungs¬
stand nicht ungefähr gleichartig ist, und deren geistigen Durchschnittszustand
man nicht kennt.

Wie kann der Staat, dem die Universität schließlich Gelo genug kostet,
hoffen, mit so lockeren unzulänglichen Einrichtungen sich brauchbare Beamte
zu erziehen? Ohne positive Kenntnisse, wie die Meisten dieser zukünftigen
Staatsdiener bleiben, kommen sie demnächst in die Lage, die verwickelten
Fragen der Praxis mit allzu allgemeinen und dürftigen Theorien behandeln
zu müssen — eine der schwersten Hemmungen für einen Staat, der aus
einem kleinen ein großer werden will. Was hilft da die natürliche Intelli¬
genz der Italiener, die man so vielfach preisen hört? Das Volk hat keine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/357>, abgerufen am 28.09.2024.