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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Parteiinteressen und Parteiwünschen entsprechende Verwendung zu schaffen,
ist so groß, daß sie die Reformwünsche liberaler Minister immer wieder
zum Schweigen brachte. -- Die ungünstige Aufnahme, welche Russell's
erwähnte Briefe gefunden haben (obgleich sie einen Theil des kirchlichen
Einkommens weltlichen Zwecken zuwenden wollen), machen höchst wahr¬
scheinlich, daß das Cabinet auf dem im vorigen Jahre von Gladstone be¬
tretenen Wege völliger Säcularisirung verharren werde. Ob ihm gelingen
wird, seine Partei auch nach Präcisirung der Andeutungen vom vorigen
Jahre zusammenzuhalten, muß sich erst zeigen. -- Bright's Zugehörigkeit zu
der gegenwärtigen Regierung hat ihren Einfluß bis jetzt nur in einer, und
dazu wohlthätigen Beziehung geltendgemacht; jene Ersparnisse in der Verwal¬
tung, welche schon längst verhießen waren, und sich namentlich auf die Ent¬
lassung einer größeren Anzahl unbeschäftigter Ministerialbeamten bezogen,
sind zur Wahrheit geworden. Ebenso sind die Werfte von Devenport und
Woolwich aufgehoben worden. Von Ersparnissen in größerem Maßstabe und
in Bezug auf Armee und Flotte, wie sie sicher in den Wünschen des
alten Manchestermannes liegen, ist in der Thronrede, die sich überhaupt so kurz
als möglich gefaßt hat, nicht die Rede. Ein Passus derselben, ist vielfach
als eine Anspielung auf das Ballot (die geheime Abstimmung) aufgefaßt
worden, das nicht nur von dem Chartistenprogramm gefordert wurde, son¬
dern längst in die Doctrinen Cobden's und Bright's übergegangen ist. Nach
dem, was bis jetzt vorliegt, erscheint diese Auffassung unbegründet; weder ist
es wahrscheinlich, daß ein specifisch whigistisches Cabinet des einen radicalen
Handelsministers wegen einer Reform des Wahlrechts zustimmen werde,
welche gegen alle ihre Doctrinen verstößt, noch wird Gladstone (mag er selbst
zu der Ballotfrage stehen, wie er wolle) den Leichtsinn haben, die mühsam
wiederhergestellte Einheit seiner Partei radicaler Velleitäten wegen auf die
Probe zu stellen. Das hieße Bright's Unterstützung der gegenwärtigen Re¬
gierung um einen allzuhohen Preis bezahlen. -- Noch vor dem Zusammen¬
tritt des Parlaments hat England zwei politische Männer verloren, welche
ihrer Zeit viel genannt worden sind: Ernest Ions, den uneigennützigsten
und gebildetsten der Chartistenführer und William Ewart, der sich durch
Milderung der harten altenglischen Strafgesetze und Förderung des volks-
wirthschaftlichen Fortschritts schon vor Jahrzehnten reiche Verdienste er¬
worben hatte.

Von all den seit dem Beginn des neuen Jahres zusammengetretenen
Parlamenten hat keines auf eine so fleißige gesetzgeberische Arbeit zurückzusehen
als das preußische. Während aus Würtemberg nach Beschluß der Adreß-
debatte kaum eine einzige Nachricht über wichtige Landtagsarbeiten nach
Norden gedrungen ist, das Münchener Abgeordnetenhaus erst seit Ablehnung


Parteiinteressen und Parteiwünschen entsprechende Verwendung zu schaffen,
ist so groß, daß sie die Reformwünsche liberaler Minister immer wieder
zum Schweigen brachte. — Die ungünstige Aufnahme, welche Russell's
erwähnte Briefe gefunden haben (obgleich sie einen Theil des kirchlichen
Einkommens weltlichen Zwecken zuwenden wollen), machen höchst wahr¬
scheinlich, daß das Cabinet auf dem im vorigen Jahre von Gladstone be¬
tretenen Wege völliger Säcularisirung verharren werde. Ob ihm gelingen
wird, seine Partei auch nach Präcisirung der Andeutungen vom vorigen
Jahre zusammenzuhalten, muß sich erst zeigen. — Bright's Zugehörigkeit zu
der gegenwärtigen Regierung hat ihren Einfluß bis jetzt nur in einer, und
dazu wohlthätigen Beziehung geltendgemacht; jene Ersparnisse in der Verwal¬
tung, welche schon längst verhießen waren, und sich namentlich auf die Ent¬
lassung einer größeren Anzahl unbeschäftigter Ministerialbeamten bezogen,
sind zur Wahrheit geworden. Ebenso sind die Werfte von Devenport und
Woolwich aufgehoben worden. Von Ersparnissen in größerem Maßstabe und
in Bezug auf Armee und Flotte, wie sie sicher in den Wünschen des
alten Manchestermannes liegen, ist in der Thronrede, die sich überhaupt so kurz
als möglich gefaßt hat, nicht die Rede. Ein Passus derselben, ist vielfach
als eine Anspielung auf das Ballot (die geheime Abstimmung) aufgefaßt
worden, das nicht nur von dem Chartistenprogramm gefordert wurde, son¬
dern längst in die Doctrinen Cobden's und Bright's übergegangen ist. Nach
dem, was bis jetzt vorliegt, erscheint diese Auffassung unbegründet; weder ist
es wahrscheinlich, daß ein specifisch whigistisches Cabinet des einen radicalen
Handelsministers wegen einer Reform des Wahlrechts zustimmen werde,
welche gegen alle ihre Doctrinen verstößt, noch wird Gladstone (mag er selbst
zu der Ballotfrage stehen, wie er wolle) den Leichtsinn haben, die mühsam
wiederhergestellte Einheit seiner Partei radicaler Velleitäten wegen auf die
Probe zu stellen. Das hieße Bright's Unterstützung der gegenwärtigen Re¬
gierung um einen allzuhohen Preis bezahlen. — Noch vor dem Zusammen¬
tritt des Parlaments hat England zwei politische Männer verloren, welche
ihrer Zeit viel genannt worden sind: Ernest Ions, den uneigennützigsten
und gebildetsten der Chartistenführer und William Ewart, der sich durch
Milderung der harten altenglischen Strafgesetze und Förderung des volks-
wirthschaftlichen Fortschritts schon vor Jahrzehnten reiche Verdienste er¬
worben hatte.

Von all den seit dem Beginn des neuen Jahres zusammengetretenen
Parlamenten hat keines auf eine so fleißige gesetzgeberische Arbeit zurückzusehen
als das preußische. Während aus Würtemberg nach Beschluß der Adreß-
debatte kaum eine einzige Nachricht über wichtige Landtagsarbeiten nach
Norden gedrungen ist, das Münchener Abgeordnetenhaus erst seit Ablehnung


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[0345] Parteiinteressen und Parteiwünschen entsprechende Verwendung zu schaffen, ist so groß, daß sie die Reformwünsche liberaler Minister immer wieder zum Schweigen brachte. — Die ungünstige Aufnahme, welche Russell's erwähnte Briefe gefunden haben (obgleich sie einen Theil des kirchlichen Einkommens weltlichen Zwecken zuwenden wollen), machen höchst wahr¬ scheinlich, daß das Cabinet auf dem im vorigen Jahre von Gladstone be¬ tretenen Wege völliger Säcularisirung verharren werde. Ob ihm gelingen wird, seine Partei auch nach Präcisirung der Andeutungen vom vorigen Jahre zusammenzuhalten, muß sich erst zeigen. — Bright's Zugehörigkeit zu der gegenwärtigen Regierung hat ihren Einfluß bis jetzt nur in einer, und dazu wohlthätigen Beziehung geltendgemacht; jene Ersparnisse in der Verwal¬ tung, welche schon längst verhießen waren, und sich namentlich auf die Ent¬ lassung einer größeren Anzahl unbeschäftigter Ministerialbeamten bezogen, sind zur Wahrheit geworden. Ebenso sind die Werfte von Devenport und Woolwich aufgehoben worden. Von Ersparnissen in größerem Maßstabe und in Bezug auf Armee und Flotte, wie sie sicher in den Wünschen des alten Manchestermannes liegen, ist in der Thronrede, die sich überhaupt so kurz als möglich gefaßt hat, nicht die Rede. Ein Passus derselben, ist vielfach als eine Anspielung auf das Ballot (die geheime Abstimmung) aufgefaßt worden, das nicht nur von dem Chartistenprogramm gefordert wurde, son¬ dern längst in die Doctrinen Cobden's und Bright's übergegangen ist. Nach dem, was bis jetzt vorliegt, erscheint diese Auffassung unbegründet; weder ist es wahrscheinlich, daß ein specifisch whigistisches Cabinet des einen radicalen Handelsministers wegen einer Reform des Wahlrechts zustimmen werde, welche gegen alle ihre Doctrinen verstößt, noch wird Gladstone (mag er selbst zu der Ballotfrage stehen, wie er wolle) den Leichtsinn haben, die mühsam wiederhergestellte Einheit seiner Partei radicaler Velleitäten wegen auf die Probe zu stellen. Das hieße Bright's Unterstützung der gegenwärtigen Re¬ gierung um einen allzuhohen Preis bezahlen. — Noch vor dem Zusammen¬ tritt des Parlaments hat England zwei politische Männer verloren, welche ihrer Zeit viel genannt worden sind: Ernest Ions, den uneigennützigsten und gebildetsten der Chartistenführer und William Ewart, der sich durch Milderung der harten altenglischen Strafgesetze und Förderung des volks- wirthschaftlichen Fortschritts schon vor Jahrzehnten reiche Verdienste er¬ worben hatte. Von all den seit dem Beginn des neuen Jahres zusammengetretenen Parlamenten hat keines auf eine so fleißige gesetzgeberische Arbeit zurückzusehen als das preußische. Während aus Würtemberg nach Beschluß der Adreß- debatte kaum eine einzige Nachricht über wichtige Landtagsarbeiten nach Norden gedrungen ist, das Münchener Abgeordnetenhaus erst seit Ablehnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/345>, abgerufen am 28.09.2024.