Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeitungen sind uns zu einem großen Theil den Telegrammen, welche aus
Athen nach London, Paris und Wien gelangten, die nöthigen Commentare
schuldig geblieben. Den besten Commentar zu dieser jüngsten Phase der
orientalischen Frage liefert vielleicht des Fürsten von Montenegro Reise nach
Petersburg und Moskau, welche -- wie neuerdings berichtet wird -- von
den Türken mit Armirung der böhmischen Festungen beantwortet worden ist. --
Das? man trotz leerer Kassen und Vorrathskammern, trotz zuchtloser Soldaten
und ungeladener Flinten in Athen drei ganze Wochen gebraucht hat, um
sich der Nothwendigkeit zu fügen, beweist, wie groß die Aufregung am Pyräus
gewesen; auch der russischen Presse ist es sauer angekommen, ihre Rauflust
zu elfter Stunde in Friedensliebe zu verwandeln, und den Griechen noch ein¬
mal das alte Trostwort "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben" zuzurufen. Die
Most. Zeitung mußte zu Berufungen auf Rußlands Nachgiebigkeit von
1856 und Preußens Verhalten in Olmütz die Zuflucht nehmen, um den
Glaubensgenossen auf der Balkaninsel Vernunft predigen zu können, und der
Golos klammerte sich bis zuletzt an den Strohhalm der türkisch' persischen
Differenzen, um nur nicht an die Annahme der verhaßten pariser Beschlüsse
glauben zu müssen; selbst die konservative Westj konnte von der fortgesetzten
Anwendung "westeuropäischer Palliative" kein Heil für den Osten des Welt¬
theils erwarten. Wie gründlich contrastirt diese Haltung der maßgebenden
russischen Journale zu den optimistischen Darstellungen gewisser Petersburger
Correspondenten und der Versicherung des Brüsseler Nord, daß in Rußland
"tous les KouvötöL Usus" Nichts so sehnlich wünschten, wie die friedliche
Beilegung des türkisch-griechischen Streits! Daß die gewonnenen Resultate
im besten Fall doch nur einige Monate lang vorhalten können, und daß die
Beendigung des Aufstandes auf Candia für die Ruhe auf anderen türkisch¬
griechischen Inseln schlechterdings keine Bürgschaft bietet, sagt sich freilich
alle Welt, und wenn man dennoch das Mögliche thut, um diese Gedanken
mundtodt zu machen, so geschieht das wesentlich, weil man sich die spärlichen
Augenblicke der Ruhe nicht vollends vergiften will. Die Beschaffenheit un¬
seres Welttheils und seines politischen Systems ist in dieser Beziehung der
eines gut construirten Maschinenwerks zu vergleichen, nur im umgekehrten
Sinn; wie dieses ein Reservesicherheitsventil besitzt, das zur Anwendung kommt,
wenn die gewöhnlichen Sicherheiten versagen, so haben wir an der orienta¬
lischen Frage ein Reservemittel nicht gegen, sondern für die Störung des
europäischen Friedens, das seine Dienste nicht schuldig bleibt, wenn das
Gleichgewicht im Herzen des Welt-Heils auch nur nothdürftig hergestellt ist.
-- Dem neuen griechischen Cabinet wird aus der Zeit seiner bisherigen
Thätigkeit natürlich das Beste nachgesagt: es richtet seine Blicke auf die
inneren Zustände, sucht Ordnung in die Finanzen zu bringen, dem Räuber-


41'

Zeitungen sind uns zu einem großen Theil den Telegrammen, welche aus
Athen nach London, Paris und Wien gelangten, die nöthigen Commentare
schuldig geblieben. Den besten Commentar zu dieser jüngsten Phase der
orientalischen Frage liefert vielleicht des Fürsten von Montenegro Reise nach
Petersburg und Moskau, welche — wie neuerdings berichtet wird — von
den Türken mit Armirung der böhmischen Festungen beantwortet worden ist. —
Das? man trotz leerer Kassen und Vorrathskammern, trotz zuchtloser Soldaten
und ungeladener Flinten in Athen drei ganze Wochen gebraucht hat, um
sich der Nothwendigkeit zu fügen, beweist, wie groß die Aufregung am Pyräus
gewesen; auch der russischen Presse ist es sauer angekommen, ihre Rauflust
zu elfter Stunde in Friedensliebe zu verwandeln, und den Griechen noch ein¬
mal das alte Trostwort „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben" zuzurufen. Die
Most. Zeitung mußte zu Berufungen auf Rußlands Nachgiebigkeit von
1856 und Preußens Verhalten in Olmütz die Zuflucht nehmen, um den
Glaubensgenossen auf der Balkaninsel Vernunft predigen zu können, und der
Golos klammerte sich bis zuletzt an den Strohhalm der türkisch' persischen
Differenzen, um nur nicht an die Annahme der verhaßten pariser Beschlüsse
glauben zu müssen; selbst die konservative Westj konnte von der fortgesetzten
Anwendung „westeuropäischer Palliative" kein Heil für den Osten des Welt¬
theils erwarten. Wie gründlich contrastirt diese Haltung der maßgebenden
russischen Journale zu den optimistischen Darstellungen gewisser Petersburger
Correspondenten und der Versicherung des Brüsseler Nord, daß in Rußland
„tous les KouvötöL Usus" Nichts so sehnlich wünschten, wie die friedliche
Beilegung des türkisch-griechischen Streits! Daß die gewonnenen Resultate
im besten Fall doch nur einige Monate lang vorhalten können, und daß die
Beendigung des Aufstandes auf Candia für die Ruhe auf anderen türkisch¬
griechischen Inseln schlechterdings keine Bürgschaft bietet, sagt sich freilich
alle Welt, und wenn man dennoch das Mögliche thut, um diese Gedanken
mundtodt zu machen, so geschieht das wesentlich, weil man sich die spärlichen
Augenblicke der Ruhe nicht vollends vergiften will. Die Beschaffenheit un¬
seres Welttheils und seines politischen Systems ist in dieser Beziehung der
eines gut construirten Maschinenwerks zu vergleichen, nur im umgekehrten
Sinn; wie dieses ein Reservesicherheitsventil besitzt, das zur Anwendung kommt,
wenn die gewöhnlichen Sicherheiten versagen, so haben wir an der orienta¬
lischen Frage ein Reservemittel nicht gegen, sondern für die Störung des
europäischen Friedens, das seine Dienste nicht schuldig bleibt, wenn das
Gleichgewicht im Herzen des Welt-Heils auch nur nothdürftig hergestellt ist.
— Dem neuen griechischen Cabinet wird aus der Zeit seiner bisherigen
Thätigkeit natürlich das Beste nachgesagt: es richtet seine Blicke auf die
inneren Zustände, sucht Ordnung in die Finanzen zu bringen, dem Räuber-


41'
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0335" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120524"/>
          <p xml:id="ID_957" prev="#ID_956" next="#ID_958"> Zeitungen sind uns zu einem großen Theil den Telegrammen, welche aus<lb/>
Athen nach London, Paris und Wien gelangten, die nöthigen Commentare<lb/>
schuldig geblieben.  Den besten Commentar zu dieser jüngsten Phase der<lb/>
orientalischen Frage liefert vielleicht des Fürsten von Montenegro Reise nach<lb/>
Petersburg und Moskau, welche &#x2014; wie neuerdings berichtet wird &#x2014; von<lb/>
den Türken mit Armirung der böhmischen Festungen beantwortet worden ist. &#x2014;<lb/>
Das? man trotz leerer Kassen und Vorrathskammern, trotz zuchtloser Soldaten<lb/>
und ungeladener Flinten in Athen drei ganze Wochen gebraucht hat, um<lb/>
sich der Nothwendigkeit zu fügen, beweist, wie groß die Aufregung am Pyräus<lb/>
gewesen; auch der russischen Presse ist es sauer angekommen, ihre Rauflust<lb/>
zu elfter Stunde in Friedensliebe zu verwandeln, und den Griechen noch ein¬<lb/>
mal das alte Trostwort &#x201E;Aufgeschoben ist nicht aufgehoben" zuzurufen. Die<lb/>
Most. Zeitung mußte zu Berufungen auf Rußlands Nachgiebigkeit von<lb/>
1856 und Preußens Verhalten in Olmütz die Zuflucht nehmen, um den<lb/>
Glaubensgenossen auf der Balkaninsel Vernunft predigen zu können, und der<lb/>
Golos klammerte sich bis zuletzt an den Strohhalm der türkisch' persischen<lb/>
Differenzen, um nur nicht an die Annahme der verhaßten pariser Beschlüsse<lb/>
glauben zu müssen; selbst die konservative Westj konnte von der fortgesetzten<lb/>
Anwendung &#x201E;westeuropäischer Palliative" kein Heil für den Osten des Welt¬<lb/>
theils erwarten.  Wie gründlich contrastirt diese Haltung der maßgebenden<lb/>
russischen Journale zu den optimistischen Darstellungen gewisser Petersburger<lb/>
Correspondenten und der Versicherung des Brüsseler Nord, daß in Rußland<lb/>
&#x201E;tous les KouvötöL Usus" Nichts so sehnlich wünschten, wie die friedliche<lb/>
Beilegung des türkisch-griechischen Streits! Daß die gewonnenen Resultate<lb/>
im besten Fall doch nur einige Monate lang vorhalten können, und daß die<lb/>
Beendigung des Aufstandes auf Candia für die Ruhe auf anderen türkisch¬<lb/>
griechischen Inseln schlechterdings keine Bürgschaft bietet, sagt sich freilich<lb/>
alle Welt, und wenn man dennoch das Mögliche thut, um diese Gedanken<lb/>
mundtodt zu machen, so geschieht das wesentlich, weil man sich die spärlichen<lb/>
Augenblicke der Ruhe nicht vollends vergiften will.  Die Beschaffenheit un¬<lb/>
seres Welttheils und seines politischen Systems ist in dieser Beziehung der<lb/>
eines gut construirten Maschinenwerks zu vergleichen, nur im umgekehrten<lb/>
Sinn; wie dieses ein Reservesicherheitsventil besitzt, das zur Anwendung kommt,<lb/>
wenn die gewöhnlichen Sicherheiten versagen, so haben wir an der orienta¬<lb/>
lischen Frage ein Reservemittel nicht gegen, sondern für die Störung des<lb/>
europäischen Friedens, das seine Dienste nicht schuldig bleibt, wenn das<lb/>
Gleichgewicht im Herzen des Welt-Heils auch nur nothdürftig hergestellt ist.<lb/>
&#x2014; Dem neuen griechischen Cabinet wird aus der Zeit seiner bisherigen<lb/>
Thätigkeit natürlich das Beste nachgesagt: es richtet seine Blicke auf die<lb/>
inneren Zustände, sucht Ordnung in die Finanzen zu bringen, dem Räuber-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 41'</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0335] Zeitungen sind uns zu einem großen Theil den Telegrammen, welche aus Athen nach London, Paris und Wien gelangten, die nöthigen Commentare schuldig geblieben. Den besten Commentar zu dieser jüngsten Phase der orientalischen Frage liefert vielleicht des Fürsten von Montenegro Reise nach Petersburg und Moskau, welche — wie neuerdings berichtet wird — von den Türken mit Armirung der böhmischen Festungen beantwortet worden ist. — Das? man trotz leerer Kassen und Vorrathskammern, trotz zuchtloser Soldaten und ungeladener Flinten in Athen drei ganze Wochen gebraucht hat, um sich der Nothwendigkeit zu fügen, beweist, wie groß die Aufregung am Pyräus gewesen; auch der russischen Presse ist es sauer angekommen, ihre Rauflust zu elfter Stunde in Friedensliebe zu verwandeln, und den Griechen noch ein¬ mal das alte Trostwort „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben" zuzurufen. Die Most. Zeitung mußte zu Berufungen auf Rußlands Nachgiebigkeit von 1856 und Preußens Verhalten in Olmütz die Zuflucht nehmen, um den Glaubensgenossen auf der Balkaninsel Vernunft predigen zu können, und der Golos klammerte sich bis zuletzt an den Strohhalm der türkisch' persischen Differenzen, um nur nicht an die Annahme der verhaßten pariser Beschlüsse glauben zu müssen; selbst die konservative Westj konnte von der fortgesetzten Anwendung „westeuropäischer Palliative" kein Heil für den Osten des Welt¬ theils erwarten. Wie gründlich contrastirt diese Haltung der maßgebenden russischen Journale zu den optimistischen Darstellungen gewisser Petersburger Correspondenten und der Versicherung des Brüsseler Nord, daß in Rußland „tous les KouvötöL Usus" Nichts so sehnlich wünschten, wie die friedliche Beilegung des türkisch-griechischen Streits! Daß die gewonnenen Resultate im besten Fall doch nur einige Monate lang vorhalten können, und daß die Beendigung des Aufstandes auf Candia für die Ruhe auf anderen türkisch¬ griechischen Inseln schlechterdings keine Bürgschaft bietet, sagt sich freilich alle Welt, und wenn man dennoch das Mögliche thut, um diese Gedanken mundtodt zu machen, so geschieht das wesentlich, weil man sich die spärlichen Augenblicke der Ruhe nicht vollends vergiften will. Die Beschaffenheit un¬ seres Welttheils und seines politischen Systems ist in dieser Beziehung der eines gut construirten Maschinenwerks zu vergleichen, nur im umgekehrten Sinn; wie dieses ein Reservesicherheitsventil besitzt, das zur Anwendung kommt, wenn die gewöhnlichen Sicherheiten versagen, so haben wir an der orienta¬ lischen Frage ein Reservemittel nicht gegen, sondern für die Störung des europäischen Friedens, das seine Dienste nicht schuldig bleibt, wenn das Gleichgewicht im Herzen des Welt-Heils auch nur nothdürftig hergestellt ist. — Dem neuen griechischen Cabinet wird aus der Zeit seiner bisherigen Thätigkeit natürlich das Beste nachgesagt: es richtet seine Blicke auf die inneren Zustände, sucht Ordnung in die Finanzen zu bringen, dem Räuber- 41'

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/335
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/335>, abgerufen am 28.09.2024.