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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Ist dies Volk was es sein könnte? Ist es so, wie ein Staat es braucht,
der in die Reihe der Machtstaaten eintreten will? Und da muß man, wenn
man sich auf den Standpunkt des Nächstbetheiligten, etwa einer patriotischen
Regierung stellt, entschieden mit Nein antworten.

Denn die Hauptsachen, deren ein Staat, wenn er irgend etwas bedeuten
will, nun einmal nicht entbehren kann, um Macht zu erzeugen, fehlen in
diesen neapolitanischen Landen in bedenklichem Grade: nämlich eine tüchtige
Production, eine tüchtige Disciplin und, wodurch die eine hervorgerufen und
befördert, die andere "erinnerlich! und befestigt wird, eine tüchtige, allgemeine
und durchgreifende Bildung. Dazu ist es keine leichte Sache, einem so sorg¬
losen Volke auch nur die Erkenntniß dieser Mängel beizubringen, und so
wird es der Regierung doppelt schwer, ihren Hebel anzusetzen und den ni"
cuius vitiosus, durch welchen Unbildung, wirthschaftliche Trägheit und po¬
litische Zerfahrenheit unter einander zusammenhängen, gründlich zu zerreißen.
Aus allen ihren Maßregeln erkennt man, wie sehr sie sich hütet, dies Volk
fest anzufassen. Wo anfangen? Mit dem Volksunterrichte? Die Regierung
weiß die Wichtigkeit desselben wohl zu würdigen, hat selbst Schulen gegründet
und die Municipien genöthigt, das Volksschulwesen in die Hand zu nehmen;
aber einem Volke, das unter der früheren schulfeindlichen Regierung garnicht
unterrichtet wurde, wagte sie nicht mit dem Schulzwange zu kommen, und
so ist es nur ein verhältnißmäßig geringer Bruchtheil der Bevölkerung, der
sich die dargebotene Wohlthat zu Nutze macht. Mit der Disciplinirung der
Massen, mit Bildung der Gesellschaft zu einem staatsbewußten Volke ist
es etwa ebenso bestellt. Zwar den schlimmsten Ausgeburten der socialen
Anarchie, dem Brigantaggto und der Camorra, dieser consolidirten
Gaunerschast der Städte, ist die Regierung mit Energie entgegengetreten,
und von der neuesten Praxis, nach welcher man die Briganten lieber "in
coiMtto" sterben, als in die Gefängnisse wandern läßt (mit der Hoffnung
ausbrechen zu können), läßt sich die endliche Ausrottung des Räuberwesens
erwarten. Aber wie steht es mit der positiven politischen Zucht? Was gilt
der Dienst am Staate, die Leistung sür den Staat? Alles in Allem wird
er wie etwas Fremdartiges, wie eine Last empfunden, und man muß nicht
meinen, daß das blos auf Rechnung des Wechsels der Dynastie zu setzen
sei. Nicht das Haus Savoyen ist mißliebig, sondern der Staat mit seiner
Disciplin und seinen Pflichten, und was keine Lust hat, diesen gerecht zu
werden, nennt sich bourbonistisch und faullenzt. Die bourbonische Regierungs-
weise war allerdings den Neigungen dieses Volkes conformer, aber gewiß
nicht seinen besseren; Volk und Regierung waren stillschweigend in dem
Compromiß übereingekommen, sich die Pflichten, welche das Leben adeln,
gegenseitig zu erlassen. Der bourbonische Staat war das Mi-ig.reg.ti moan-6
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Ist dies Volk was es sein könnte? Ist es so, wie ein Staat es braucht,
der in die Reihe der Machtstaaten eintreten will? Und da muß man, wenn
man sich auf den Standpunkt des Nächstbetheiligten, etwa einer patriotischen
Regierung stellt, entschieden mit Nein antworten.

Denn die Hauptsachen, deren ein Staat, wenn er irgend etwas bedeuten
will, nun einmal nicht entbehren kann, um Macht zu erzeugen, fehlen in
diesen neapolitanischen Landen in bedenklichem Grade: nämlich eine tüchtige
Production, eine tüchtige Disciplin und, wodurch die eine hervorgerufen und
befördert, die andere «erinnerlich! und befestigt wird, eine tüchtige, allgemeine
und durchgreifende Bildung. Dazu ist es keine leichte Sache, einem so sorg¬
losen Volke auch nur die Erkenntniß dieser Mängel beizubringen, und so
wird es der Regierung doppelt schwer, ihren Hebel anzusetzen und den ni»
cuius vitiosus, durch welchen Unbildung, wirthschaftliche Trägheit und po¬
litische Zerfahrenheit unter einander zusammenhängen, gründlich zu zerreißen.
Aus allen ihren Maßregeln erkennt man, wie sehr sie sich hütet, dies Volk
fest anzufassen. Wo anfangen? Mit dem Volksunterrichte? Die Regierung
weiß die Wichtigkeit desselben wohl zu würdigen, hat selbst Schulen gegründet
und die Municipien genöthigt, das Volksschulwesen in die Hand zu nehmen;
aber einem Volke, das unter der früheren schulfeindlichen Regierung garnicht
unterrichtet wurde, wagte sie nicht mit dem Schulzwange zu kommen, und
so ist es nur ein verhältnißmäßig geringer Bruchtheil der Bevölkerung, der
sich die dargebotene Wohlthat zu Nutze macht. Mit der Disciplinirung der
Massen, mit Bildung der Gesellschaft zu einem staatsbewußten Volke ist
es etwa ebenso bestellt. Zwar den schlimmsten Ausgeburten der socialen
Anarchie, dem Brigantaggto und der Camorra, dieser consolidirten
Gaunerschast der Städte, ist die Regierung mit Energie entgegengetreten,
und von der neuesten Praxis, nach welcher man die Briganten lieber „in
coiMtto" sterben, als in die Gefängnisse wandern läßt (mit der Hoffnung
ausbrechen zu können), läßt sich die endliche Ausrottung des Räuberwesens
erwarten. Aber wie steht es mit der positiven politischen Zucht? Was gilt
der Dienst am Staate, die Leistung sür den Staat? Alles in Allem wird
er wie etwas Fremdartiges, wie eine Last empfunden, und man muß nicht
meinen, daß das blos auf Rechnung des Wechsels der Dynastie zu setzen
sei. Nicht das Haus Savoyen ist mißliebig, sondern der Staat mit seiner
Disciplin und seinen Pflichten, und was keine Lust hat, diesen gerecht zu
werden, nennt sich bourbonistisch und faullenzt. Die bourbonische Regierungs-
weise war allerdings den Neigungen dieses Volkes conformer, aber gewiß
nicht seinen besseren; Volk und Regierung waren stillschweigend in dem
Compromiß übereingekommen, sich die Pflichten, welche das Leben adeln,
gegenseitig zu erlassen. Der bourbonische Staat war das Mi-ig.reg.ti moan-6
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[0279] Ist dies Volk was es sein könnte? Ist es so, wie ein Staat es braucht, der in die Reihe der Machtstaaten eintreten will? Und da muß man, wenn man sich auf den Standpunkt des Nächstbetheiligten, etwa einer patriotischen Regierung stellt, entschieden mit Nein antworten. Denn die Hauptsachen, deren ein Staat, wenn er irgend etwas bedeuten will, nun einmal nicht entbehren kann, um Macht zu erzeugen, fehlen in diesen neapolitanischen Landen in bedenklichem Grade: nämlich eine tüchtige Production, eine tüchtige Disciplin und, wodurch die eine hervorgerufen und befördert, die andere «erinnerlich! und befestigt wird, eine tüchtige, allgemeine und durchgreifende Bildung. Dazu ist es keine leichte Sache, einem so sorg¬ losen Volke auch nur die Erkenntniß dieser Mängel beizubringen, und so wird es der Regierung doppelt schwer, ihren Hebel anzusetzen und den ni» cuius vitiosus, durch welchen Unbildung, wirthschaftliche Trägheit und po¬ litische Zerfahrenheit unter einander zusammenhängen, gründlich zu zerreißen. Aus allen ihren Maßregeln erkennt man, wie sehr sie sich hütet, dies Volk fest anzufassen. Wo anfangen? Mit dem Volksunterrichte? Die Regierung weiß die Wichtigkeit desselben wohl zu würdigen, hat selbst Schulen gegründet und die Municipien genöthigt, das Volksschulwesen in die Hand zu nehmen; aber einem Volke, das unter der früheren schulfeindlichen Regierung garnicht unterrichtet wurde, wagte sie nicht mit dem Schulzwange zu kommen, und so ist es nur ein verhältnißmäßig geringer Bruchtheil der Bevölkerung, der sich die dargebotene Wohlthat zu Nutze macht. Mit der Disciplinirung der Massen, mit Bildung der Gesellschaft zu einem staatsbewußten Volke ist es etwa ebenso bestellt. Zwar den schlimmsten Ausgeburten der socialen Anarchie, dem Brigantaggto und der Camorra, dieser consolidirten Gaunerschast der Städte, ist die Regierung mit Energie entgegengetreten, und von der neuesten Praxis, nach welcher man die Briganten lieber „in coiMtto" sterben, als in die Gefängnisse wandern läßt (mit der Hoffnung ausbrechen zu können), läßt sich die endliche Ausrottung des Räuberwesens erwarten. Aber wie steht es mit der positiven politischen Zucht? Was gilt der Dienst am Staate, die Leistung sür den Staat? Alles in Allem wird er wie etwas Fremdartiges, wie eine Last empfunden, und man muß nicht meinen, daß das blos auf Rechnung des Wechsels der Dynastie zu setzen sei. Nicht das Haus Savoyen ist mißliebig, sondern der Staat mit seiner Disciplin und seinen Pflichten, und was keine Lust hat, diesen gerecht zu werden, nennt sich bourbonistisch und faullenzt. Die bourbonische Regierungs- weise war allerdings den Neigungen dieses Volkes conformer, aber gewiß nicht seinen besseren; Volk und Regierung waren stillschweigend in dem Compromiß übereingekommen, sich die Pflichten, welche das Leben adeln, gegenseitig zu erlassen. Der bourbonische Staat war das Mi-ig.reg.ti moan-6 ' 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/279>, abgerufen am 20.10.2024.