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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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mittelbar an einander -- so treten jene Eigenheiten des neapolitanischen
Lebens den Sinnen sofort in ihrem höchsten Grade entgegen. Familie neben
Familie lungert, arbeitet, spielt vor ihrer Höhle. Diese Höhle ist das Erd¬
geschoß eines unendlich schmalen hohen Hauses, das nur Balkonthüren, keine
Fenster zeigt. Ein Gemach birgt den ganzen einfachen Hausrath, der bis
auf das sehr umfangreiche Bett Tags über auf die Straße wandert; in die¬
sem Zimmer schläft Alles mit Einschluß der Katzen und des Federviehs.

Früh setzt sich der Papa mit seinem Arbeitskasten vor die Thüre, flickt
unter Beihilfe der primitivsten Instrumente einen alten Stiefel mit einem
anderen gefundenen und unterhält sich dazu mit Jedem, der ihm nahe kommt.
Großmutter steht in der Thüre und spinnt an der Spindel, dem poetischen,
aber höchst mangelhaften Geräth, das hier nur beibehalten ist, damit Gro߬
mutter jeden Augenblick auch herumlaufen und jedes Ereigniß, das auf der
Straße vor sich geht, spinnend in der Nähe betrachten kann. Wenn Mama
nicht etwa einen Fisch oder Pinienapfel röstet oder Maiskerne quelle oder
irgend eine unsagbare Mischung für die Familie zubereitet -- die keine be¬
stimmte Eßstunde hat -- so wird sie der Tochter oder der Nachbarin das
Haar kämmen oder auf den Häuptern der Ihrigen die niedere Jagd aus¬
üben -- Alles auf der Straße. Das Kämmen gehört unter die Passionen
der Straßenbevölkerung; man sieht es überall und zu jeder Stunde und ein
Weib mag sich wohl, wenn sie die Liebe der Ihrigen genießt, ein halb
Dutzend Mal des Tags kämmen lassen. Einen Zweck hat es weiter nicht;
es ist nur angenehme Variation des äolcs tar vierte. Die Ausübung der
erwähnten Jagd beruht auf dem großen Princip der Gegenseitigkeit; es ist
ein Bild nicht ohne Würde, wenn man drei Matronen, durch dieses
sittliche Band vereinigt, in stiller Gelassenheit auf einander warten und
einander bedienen sieht. Sie sitzen still und ernst wie die Parzen, ganzen
Generationen Untergang sinnend. Niemand nimmt daran ein Aergerniß;
auch der Obstverkäufer nicht, der unmittelbar neben ihnen seine Orangen
und Cactusfeigen schält; auch der Lazzarone nicht, der diese Früchte für
einen erbettelten Soldo verspeist. Das naturf-in exxellerö wird hier von
keiner Seite versucht. -- Nun kommt etwa eine kleine Maecaronifabrik, ein
sehr einfaches Krek- und Preßwerk, von einem einzigen Manne mittelst eines
Rades in Bewegung gesetzt. Mit Maschinen würde man das Zehnfache
leisten, aber wer wird sich hier in die Sclaverei einer Maschine begeben, die
das anspruchsvollste Ding von der Welt ist und, einmal im Gange, nicht
wieder aufhören will. Der Neapolitaner muß jeden Moment zu arbeiten
aufhören können, um sich jeden Moment zu amüsiren. Dafür kann man
ihn auch noch Abends um 11 Uhr an seinem Rade drehen, auf seinen Ambos
hämmern, an seiner Bank hobeln sehen. Im Ganzen kommt freilich nicht


mittelbar an einander — so treten jene Eigenheiten des neapolitanischen
Lebens den Sinnen sofort in ihrem höchsten Grade entgegen. Familie neben
Familie lungert, arbeitet, spielt vor ihrer Höhle. Diese Höhle ist das Erd¬
geschoß eines unendlich schmalen hohen Hauses, das nur Balkonthüren, keine
Fenster zeigt. Ein Gemach birgt den ganzen einfachen Hausrath, der bis
auf das sehr umfangreiche Bett Tags über auf die Straße wandert; in die¬
sem Zimmer schläft Alles mit Einschluß der Katzen und des Federviehs.

Früh setzt sich der Papa mit seinem Arbeitskasten vor die Thüre, flickt
unter Beihilfe der primitivsten Instrumente einen alten Stiefel mit einem
anderen gefundenen und unterhält sich dazu mit Jedem, der ihm nahe kommt.
Großmutter steht in der Thüre und spinnt an der Spindel, dem poetischen,
aber höchst mangelhaften Geräth, das hier nur beibehalten ist, damit Gro߬
mutter jeden Augenblick auch herumlaufen und jedes Ereigniß, das auf der
Straße vor sich geht, spinnend in der Nähe betrachten kann. Wenn Mama
nicht etwa einen Fisch oder Pinienapfel röstet oder Maiskerne quelle oder
irgend eine unsagbare Mischung für die Familie zubereitet — die keine be¬
stimmte Eßstunde hat — so wird sie der Tochter oder der Nachbarin das
Haar kämmen oder auf den Häuptern der Ihrigen die niedere Jagd aus¬
üben — Alles auf der Straße. Das Kämmen gehört unter die Passionen
der Straßenbevölkerung; man sieht es überall und zu jeder Stunde und ein
Weib mag sich wohl, wenn sie die Liebe der Ihrigen genießt, ein halb
Dutzend Mal des Tags kämmen lassen. Einen Zweck hat es weiter nicht;
es ist nur angenehme Variation des äolcs tar vierte. Die Ausübung der
erwähnten Jagd beruht auf dem großen Princip der Gegenseitigkeit; es ist
ein Bild nicht ohne Würde, wenn man drei Matronen, durch dieses
sittliche Band vereinigt, in stiller Gelassenheit auf einander warten und
einander bedienen sieht. Sie sitzen still und ernst wie die Parzen, ganzen
Generationen Untergang sinnend. Niemand nimmt daran ein Aergerniß;
auch der Obstverkäufer nicht, der unmittelbar neben ihnen seine Orangen
und Cactusfeigen schält; auch der Lazzarone nicht, der diese Früchte für
einen erbettelten Soldo verspeist. Das naturf-in exxellerö wird hier von
keiner Seite versucht. — Nun kommt etwa eine kleine Maecaronifabrik, ein
sehr einfaches Krek- und Preßwerk, von einem einzigen Manne mittelst eines
Rades in Bewegung gesetzt. Mit Maschinen würde man das Zehnfache
leisten, aber wer wird sich hier in die Sclaverei einer Maschine begeben, die
das anspruchsvollste Ding von der Welt ist und, einmal im Gange, nicht
wieder aufhören will. Der Neapolitaner muß jeden Moment zu arbeiten
aufhören können, um sich jeden Moment zu amüsiren. Dafür kann man
ihn auch noch Abends um 11 Uhr an seinem Rade drehen, auf seinen Ambos
hämmern, an seiner Bank hobeln sehen. Im Ganzen kommt freilich nicht


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[0274] mittelbar an einander — so treten jene Eigenheiten des neapolitanischen Lebens den Sinnen sofort in ihrem höchsten Grade entgegen. Familie neben Familie lungert, arbeitet, spielt vor ihrer Höhle. Diese Höhle ist das Erd¬ geschoß eines unendlich schmalen hohen Hauses, das nur Balkonthüren, keine Fenster zeigt. Ein Gemach birgt den ganzen einfachen Hausrath, der bis auf das sehr umfangreiche Bett Tags über auf die Straße wandert; in die¬ sem Zimmer schläft Alles mit Einschluß der Katzen und des Federviehs. Früh setzt sich der Papa mit seinem Arbeitskasten vor die Thüre, flickt unter Beihilfe der primitivsten Instrumente einen alten Stiefel mit einem anderen gefundenen und unterhält sich dazu mit Jedem, der ihm nahe kommt. Großmutter steht in der Thüre und spinnt an der Spindel, dem poetischen, aber höchst mangelhaften Geräth, das hier nur beibehalten ist, damit Gro߬ mutter jeden Augenblick auch herumlaufen und jedes Ereigniß, das auf der Straße vor sich geht, spinnend in der Nähe betrachten kann. Wenn Mama nicht etwa einen Fisch oder Pinienapfel röstet oder Maiskerne quelle oder irgend eine unsagbare Mischung für die Familie zubereitet — die keine be¬ stimmte Eßstunde hat — so wird sie der Tochter oder der Nachbarin das Haar kämmen oder auf den Häuptern der Ihrigen die niedere Jagd aus¬ üben — Alles auf der Straße. Das Kämmen gehört unter die Passionen der Straßenbevölkerung; man sieht es überall und zu jeder Stunde und ein Weib mag sich wohl, wenn sie die Liebe der Ihrigen genießt, ein halb Dutzend Mal des Tags kämmen lassen. Einen Zweck hat es weiter nicht; es ist nur angenehme Variation des äolcs tar vierte. Die Ausübung der erwähnten Jagd beruht auf dem großen Princip der Gegenseitigkeit; es ist ein Bild nicht ohne Würde, wenn man drei Matronen, durch dieses sittliche Band vereinigt, in stiller Gelassenheit auf einander warten und einander bedienen sieht. Sie sitzen still und ernst wie die Parzen, ganzen Generationen Untergang sinnend. Niemand nimmt daran ein Aergerniß; auch der Obstverkäufer nicht, der unmittelbar neben ihnen seine Orangen und Cactusfeigen schält; auch der Lazzarone nicht, der diese Früchte für einen erbettelten Soldo verspeist. Das naturf-in exxellerö wird hier von keiner Seite versucht. — Nun kommt etwa eine kleine Maecaronifabrik, ein sehr einfaches Krek- und Preßwerk, von einem einzigen Manne mittelst eines Rades in Bewegung gesetzt. Mit Maschinen würde man das Zehnfache leisten, aber wer wird sich hier in die Sclaverei einer Maschine begeben, die das anspruchsvollste Ding von der Welt ist und, einmal im Gange, nicht wieder aufhören will. Der Neapolitaner muß jeden Moment zu arbeiten aufhören können, um sich jeden Moment zu amüsiren. Dafür kann man ihn auch noch Abends um 11 Uhr an seinem Rade drehen, auf seinen Ambos hämmern, an seiner Bank hobeln sehen. Im Ganzen kommt freilich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/274>, abgerufen am 28.09.2024.