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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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giösen Dinge ausmachen, die dazu von Natur prädisponirt sind! Jeder
Mensch sein eigener Priester, ist ein Gedanke, der hier nicht aufkommt; die
Religion ist eine Provinz der Geistlichen; mögen sie dieselbe ohne Aufsehen
zu machen und ohne unbequem zu werden verwalten. Nur bet dieser Aus¬
wendigkeit der Religion, die dem Menschen ganz gegenständlich und bloß
anschaulich wird, konnte es kommen, daß Kirchen und Priester sich so un¬
zählig vermehrten; denn der Leichtsinn, der die Regel macht, wird doch auch
durch Angst und Schmerzen unterbrochen, und da fühlt sich das kindische
Gemüth unsicher, stürzt sich dem Aberglauben in die Arme, schreit nach Zei¬
chen und Wundern, glaubt die erste beste Fabel und stiftet in Angst oder
Dankbarkeit Messen über Messen, Kirchen über Kirchen.

Man muß nun dies kindliche und kindische Wesen, diese absolute Natür¬
lichkeit im Einzelnen betrachten. Es ist eine unerschöpfliche Quelle von Unter¬
haltung. Da ist auch -- obschon Neapel eine halbe Million Einwohner hat,
-- nichts von der Gemessenheit und Uniformität großer Städte; nur die
vornehme Welt macht sich auch hier das Leben so monoton wie sie es überall
thut, sie allein unterwirft sich jener internationalen Gottheit, die man mit
gähnendem Munde, falschem Haar und geschminkten Wangen darstellen sollte,
der Mode. Der gemeine Mann thut geradezu Alles, was ihm beliebt, und
nirgends in der Welt fühlt man so wenig die Polizei durch, wie hier. Er
setzt seinen Kochofen auf die Straße und legt sich mit seiner ganzen Familie
dazu -- es ist ihm erlaubt; er treibt dazu sein Handwerk und läßt alle Ab¬
fälle davon liegen -- es ist ihm erlaubt; er röstet sich an einem kleinen
Feuer, das er auf dem Pflaster anmacht, Pinienapfel, seine halbnackten
Buben verschleppen die brennenden Späne über die Straße und zünden
damit Schwärmer an, die sie sür die zusammengebettelten Soldi gekauft haben
-- Niemand wehrt ihnen. Die Wäsche flattert über die Straße, der Unrath
saust aus dem Fenster, ganze Ziegenheerden drängen sich auf dem Trottoir
der vornehmsten Straßen, um ihre Milch persönlichst in die Palazzi zu tragen
-- lauter primitive behaglich kleinstädtische Zustände. So 'will auch dies
Drängen und Treiben auf dem Toledo, auf dem sich in jedem Augenblicke
Tausende von Fußgängern und Hunderte von Fuhrwerken aller Art durch¬
einanderdrängen, selbst den Kleinresidenzlern nicht recht imponiren: man sieht,
wie Alles um kleine und kleinste Zwecke haftet und drängt, wie das Leben
hier überall en 66eg.it auftritt und der wogende Lärm der berühmten Straße
nur die unendliche Vervielfachung kleinstädtischen Treibens ist. Das Sorgen
von der Frühe bis aus den lieben Mittag, vom Mittag auf die Schüssel
und die Unterhaltung des Abends, am meisten aber ein Leben im Moment:
das ist der Inhalt der colossalen Bewegung.

Aber lassen wir den Toledo; treten wir von Portict her in die am


giösen Dinge ausmachen, die dazu von Natur prädisponirt sind! Jeder
Mensch sein eigener Priester, ist ein Gedanke, der hier nicht aufkommt; die
Religion ist eine Provinz der Geistlichen; mögen sie dieselbe ohne Aufsehen
zu machen und ohne unbequem zu werden verwalten. Nur bet dieser Aus¬
wendigkeit der Religion, die dem Menschen ganz gegenständlich und bloß
anschaulich wird, konnte es kommen, daß Kirchen und Priester sich so un¬
zählig vermehrten; denn der Leichtsinn, der die Regel macht, wird doch auch
durch Angst und Schmerzen unterbrochen, und da fühlt sich das kindische
Gemüth unsicher, stürzt sich dem Aberglauben in die Arme, schreit nach Zei¬
chen und Wundern, glaubt die erste beste Fabel und stiftet in Angst oder
Dankbarkeit Messen über Messen, Kirchen über Kirchen.

Man muß nun dies kindliche und kindische Wesen, diese absolute Natür¬
lichkeit im Einzelnen betrachten. Es ist eine unerschöpfliche Quelle von Unter¬
haltung. Da ist auch — obschon Neapel eine halbe Million Einwohner hat,
— nichts von der Gemessenheit und Uniformität großer Städte; nur die
vornehme Welt macht sich auch hier das Leben so monoton wie sie es überall
thut, sie allein unterwirft sich jener internationalen Gottheit, die man mit
gähnendem Munde, falschem Haar und geschminkten Wangen darstellen sollte,
der Mode. Der gemeine Mann thut geradezu Alles, was ihm beliebt, und
nirgends in der Welt fühlt man so wenig die Polizei durch, wie hier. Er
setzt seinen Kochofen auf die Straße und legt sich mit seiner ganzen Familie
dazu — es ist ihm erlaubt; er treibt dazu sein Handwerk und läßt alle Ab¬
fälle davon liegen — es ist ihm erlaubt; er röstet sich an einem kleinen
Feuer, das er auf dem Pflaster anmacht, Pinienapfel, seine halbnackten
Buben verschleppen die brennenden Späne über die Straße und zünden
damit Schwärmer an, die sie sür die zusammengebettelten Soldi gekauft haben
— Niemand wehrt ihnen. Die Wäsche flattert über die Straße, der Unrath
saust aus dem Fenster, ganze Ziegenheerden drängen sich auf dem Trottoir
der vornehmsten Straßen, um ihre Milch persönlichst in die Palazzi zu tragen
— lauter primitive behaglich kleinstädtische Zustände. So 'will auch dies
Drängen und Treiben auf dem Toledo, auf dem sich in jedem Augenblicke
Tausende von Fußgängern und Hunderte von Fuhrwerken aller Art durch¬
einanderdrängen, selbst den Kleinresidenzlern nicht recht imponiren: man sieht,
wie Alles um kleine und kleinste Zwecke haftet und drängt, wie das Leben
hier überall en 66eg.it auftritt und der wogende Lärm der berühmten Straße
nur die unendliche Vervielfachung kleinstädtischen Treibens ist. Das Sorgen
von der Frühe bis aus den lieben Mittag, vom Mittag auf die Schüssel
und die Unterhaltung des Abends, am meisten aber ein Leben im Moment:
das ist der Inhalt der colossalen Bewegung.

Aber lassen wir den Toledo; treten wir von Portict her in die am


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[0272] giösen Dinge ausmachen, die dazu von Natur prädisponirt sind! Jeder Mensch sein eigener Priester, ist ein Gedanke, der hier nicht aufkommt; die Religion ist eine Provinz der Geistlichen; mögen sie dieselbe ohne Aufsehen zu machen und ohne unbequem zu werden verwalten. Nur bet dieser Aus¬ wendigkeit der Religion, die dem Menschen ganz gegenständlich und bloß anschaulich wird, konnte es kommen, daß Kirchen und Priester sich so un¬ zählig vermehrten; denn der Leichtsinn, der die Regel macht, wird doch auch durch Angst und Schmerzen unterbrochen, und da fühlt sich das kindische Gemüth unsicher, stürzt sich dem Aberglauben in die Arme, schreit nach Zei¬ chen und Wundern, glaubt die erste beste Fabel und stiftet in Angst oder Dankbarkeit Messen über Messen, Kirchen über Kirchen. Man muß nun dies kindliche und kindische Wesen, diese absolute Natür¬ lichkeit im Einzelnen betrachten. Es ist eine unerschöpfliche Quelle von Unter¬ haltung. Da ist auch — obschon Neapel eine halbe Million Einwohner hat, — nichts von der Gemessenheit und Uniformität großer Städte; nur die vornehme Welt macht sich auch hier das Leben so monoton wie sie es überall thut, sie allein unterwirft sich jener internationalen Gottheit, die man mit gähnendem Munde, falschem Haar und geschminkten Wangen darstellen sollte, der Mode. Der gemeine Mann thut geradezu Alles, was ihm beliebt, und nirgends in der Welt fühlt man so wenig die Polizei durch, wie hier. Er setzt seinen Kochofen auf die Straße und legt sich mit seiner ganzen Familie dazu — es ist ihm erlaubt; er treibt dazu sein Handwerk und läßt alle Ab¬ fälle davon liegen — es ist ihm erlaubt; er röstet sich an einem kleinen Feuer, das er auf dem Pflaster anmacht, Pinienapfel, seine halbnackten Buben verschleppen die brennenden Späne über die Straße und zünden damit Schwärmer an, die sie sür die zusammengebettelten Soldi gekauft haben — Niemand wehrt ihnen. Die Wäsche flattert über die Straße, der Unrath saust aus dem Fenster, ganze Ziegenheerden drängen sich auf dem Trottoir der vornehmsten Straßen, um ihre Milch persönlichst in die Palazzi zu tragen — lauter primitive behaglich kleinstädtische Zustände. So 'will auch dies Drängen und Treiben auf dem Toledo, auf dem sich in jedem Augenblicke Tausende von Fußgängern und Hunderte von Fuhrwerken aller Art durch¬ einanderdrängen, selbst den Kleinresidenzlern nicht recht imponiren: man sieht, wie Alles um kleine und kleinste Zwecke haftet und drängt, wie das Leben hier überall en 66eg.it auftritt und der wogende Lärm der berühmten Straße nur die unendliche Vervielfachung kleinstädtischen Treibens ist. Das Sorgen von der Frühe bis aus den lieben Mittag, vom Mittag auf die Schüssel und die Unterhaltung des Abends, am meisten aber ein Leben im Moment: das ist der Inhalt der colossalen Bewegung. Aber lassen wir den Toledo; treten wir von Portict her in die am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/272>, abgerufen am 28.09.2024.