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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Endymion und andere Figuren mitten in ihrer idealen Umgebung ein Por.
trätgesicht erhalten oder wenn gar, wie auf einem Sarkophage aus Ostia
im Nuseo VKiaramonti in der sonst ganz idealen Darstellung die Porträts
einer ganzen Familie vorkommen. Wie weit man in dieser Anbequemung
an die herrschende Liebhaberei ging, zeigt recht schlagend ein Sarkophag im
Lateran, auf dessen Vorderseite in drei einzelnen Scenen links der Abschied
des Adonis, rechts die Verwundung desselben auf der Jagd, in der Mitte
sein Tod in Aphroditens Armen dargestellt ist. Hier wurde vom Künstler
in der räumlichen Folge der Scenen die Zeitfolge nicht beobachtet, weil er
die Figuren von Adonis und Aphrodite, welche die Porträtzüge der Ver¬
storbenen, offenbar Mutter und Sohn, tragen, als das Hauptsächliche aus-
zeichnen und sie gerade, gewissermaßen an Stelle des üblichen Medaillons,
in die Mitte bringen wollte.

Ebenso interessant als eine Beachtung dessen, was auf Sarkophagen nicht
vorkommt, wäre eine Statistik der mythologischen Darstellungen, welche vor¬
kommen. Vergleicht man nämlich den noch jetzt sich immer erweiternden
Reichthum griechischer Mythenstoffe in Vasengemälden mit dem Umfang des
mythologischen Kreises auf Sarkophagen, so scheint sich ein ähnliches Ver¬
hältniß zu ergeben, wie es in der Geschichte der Ueberlieferung literarischer
Producte längst feststeht: daß nämlich die Zeit, je jünger sie ist, je mehr in
der Ueberlieferung ausscheidet, daß der Kern desjenigen, was wirklich be¬
nutzt und verstanden fortlebt, von Geschlecht zu Geschlecht mehr zusammen¬
schwindet. Auch hält es nicht schwer, das Gesetzmäßige dieser Erscheinung zu
begreifen. So wenig die volle Erfahrung des Vaters aus den Sohn sich
fortpflanzt, so wenig kann die Summe der geistigen Arbeit eines Zeitalters
ungeschmälert auf das folgende übergehen; und der Umfang und innere Werth
dessen was geistig ererbt wird, ist Grund und Gradmesser für das Steigen
und Sinken der Cultur. Wir begegnen auf den Grabstätten des zweiten
und dritten Jahrhunderts n. Chr. nur eben einer verhältnißmäßig kleinen
Auswahl aus der reichen Fülle von Mythen, die Jahrhunderte früher durch
die Hand der Künstler leibhaftiges Dasein erhalten hatten. Und auch diese
Auswahl, die sich nicht unpassend mit den mythologischen Gemeinplätzen spä¬
terer lateinischer Dichter vergleichen läßt, verringert sich offenbar im Lause
der Zeit und das Ueberlieferte selbst wird statt durch Verständniß neubelebt,
mit unschöpfenscher Wiederholung zu Tode gehetzt. Aehnlich wie wir aus¬
drucksvolle Dichterworte oft in einem neuen ihnen nicht eigenen Sinne an¬
wenden, so scheint das einzig Eigenthümliche in diesen allbekannten und alt¬
überlieferten Darstellungen in dem neuen Sinn zu liegen, der ihnen durch
die Verwendung auf Grabdenkmälern untergelegt wurde. Dieses Interesse
ist indeß von nicht geringer Bedeutung: dem Numismatiker sind unter den


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Endymion und andere Figuren mitten in ihrer idealen Umgebung ein Por.
trätgesicht erhalten oder wenn gar, wie auf einem Sarkophage aus Ostia
im Nuseo VKiaramonti in der sonst ganz idealen Darstellung die Porträts
einer ganzen Familie vorkommen. Wie weit man in dieser Anbequemung
an die herrschende Liebhaberei ging, zeigt recht schlagend ein Sarkophag im
Lateran, auf dessen Vorderseite in drei einzelnen Scenen links der Abschied
des Adonis, rechts die Verwundung desselben auf der Jagd, in der Mitte
sein Tod in Aphroditens Armen dargestellt ist. Hier wurde vom Künstler
in der räumlichen Folge der Scenen die Zeitfolge nicht beobachtet, weil er
die Figuren von Adonis und Aphrodite, welche die Porträtzüge der Ver¬
storbenen, offenbar Mutter und Sohn, tragen, als das Hauptsächliche aus-
zeichnen und sie gerade, gewissermaßen an Stelle des üblichen Medaillons,
in die Mitte bringen wollte.

Ebenso interessant als eine Beachtung dessen, was auf Sarkophagen nicht
vorkommt, wäre eine Statistik der mythologischen Darstellungen, welche vor¬
kommen. Vergleicht man nämlich den noch jetzt sich immer erweiternden
Reichthum griechischer Mythenstoffe in Vasengemälden mit dem Umfang des
mythologischen Kreises auf Sarkophagen, so scheint sich ein ähnliches Ver¬
hältniß zu ergeben, wie es in der Geschichte der Ueberlieferung literarischer
Producte längst feststeht: daß nämlich die Zeit, je jünger sie ist, je mehr in
der Ueberlieferung ausscheidet, daß der Kern desjenigen, was wirklich be¬
nutzt und verstanden fortlebt, von Geschlecht zu Geschlecht mehr zusammen¬
schwindet. Auch hält es nicht schwer, das Gesetzmäßige dieser Erscheinung zu
begreifen. So wenig die volle Erfahrung des Vaters aus den Sohn sich
fortpflanzt, so wenig kann die Summe der geistigen Arbeit eines Zeitalters
ungeschmälert auf das folgende übergehen; und der Umfang und innere Werth
dessen was geistig ererbt wird, ist Grund und Gradmesser für das Steigen
und Sinken der Cultur. Wir begegnen auf den Grabstätten des zweiten
und dritten Jahrhunderts n. Chr. nur eben einer verhältnißmäßig kleinen
Auswahl aus der reichen Fülle von Mythen, die Jahrhunderte früher durch
die Hand der Künstler leibhaftiges Dasein erhalten hatten. Und auch diese
Auswahl, die sich nicht unpassend mit den mythologischen Gemeinplätzen spä¬
terer lateinischer Dichter vergleichen läßt, verringert sich offenbar im Lause
der Zeit und das Ueberlieferte selbst wird statt durch Verständniß neubelebt,
mit unschöpfenscher Wiederholung zu Tode gehetzt. Aehnlich wie wir aus¬
drucksvolle Dichterworte oft in einem neuen ihnen nicht eigenen Sinne an¬
wenden, so scheint das einzig Eigenthümliche in diesen allbekannten und alt¬
überlieferten Darstellungen in dem neuen Sinn zu liegen, der ihnen durch
die Verwendung auf Grabdenkmälern untergelegt wurde. Dieses Interesse
ist indeß von nicht geringer Bedeutung: dem Numismatiker sind unter den


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[0261] Endymion und andere Figuren mitten in ihrer idealen Umgebung ein Por. trätgesicht erhalten oder wenn gar, wie auf einem Sarkophage aus Ostia im Nuseo VKiaramonti in der sonst ganz idealen Darstellung die Porträts einer ganzen Familie vorkommen. Wie weit man in dieser Anbequemung an die herrschende Liebhaberei ging, zeigt recht schlagend ein Sarkophag im Lateran, auf dessen Vorderseite in drei einzelnen Scenen links der Abschied des Adonis, rechts die Verwundung desselben auf der Jagd, in der Mitte sein Tod in Aphroditens Armen dargestellt ist. Hier wurde vom Künstler in der räumlichen Folge der Scenen die Zeitfolge nicht beobachtet, weil er die Figuren von Adonis und Aphrodite, welche die Porträtzüge der Ver¬ storbenen, offenbar Mutter und Sohn, tragen, als das Hauptsächliche aus- zeichnen und sie gerade, gewissermaßen an Stelle des üblichen Medaillons, in die Mitte bringen wollte. Ebenso interessant als eine Beachtung dessen, was auf Sarkophagen nicht vorkommt, wäre eine Statistik der mythologischen Darstellungen, welche vor¬ kommen. Vergleicht man nämlich den noch jetzt sich immer erweiternden Reichthum griechischer Mythenstoffe in Vasengemälden mit dem Umfang des mythologischen Kreises auf Sarkophagen, so scheint sich ein ähnliches Ver¬ hältniß zu ergeben, wie es in der Geschichte der Ueberlieferung literarischer Producte längst feststeht: daß nämlich die Zeit, je jünger sie ist, je mehr in der Ueberlieferung ausscheidet, daß der Kern desjenigen, was wirklich be¬ nutzt und verstanden fortlebt, von Geschlecht zu Geschlecht mehr zusammen¬ schwindet. Auch hält es nicht schwer, das Gesetzmäßige dieser Erscheinung zu begreifen. So wenig die volle Erfahrung des Vaters aus den Sohn sich fortpflanzt, so wenig kann die Summe der geistigen Arbeit eines Zeitalters ungeschmälert auf das folgende übergehen; und der Umfang und innere Werth dessen was geistig ererbt wird, ist Grund und Gradmesser für das Steigen und Sinken der Cultur. Wir begegnen auf den Grabstätten des zweiten und dritten Jahrhunderts n. Chr. nur eben einer verhältnißmäßig kleinen Auswahl aus der reichen Fülle von Mythen, die Jahrhunderte früher durch die Hand der Künstler leibhaftiges Dasein erhalten hatten. Und auch diese Auswahl, die sich nicht unpassend mit den mythologischen Gemeinplätzen spä¬ terer lateinischer Dichter vergleichen läßt, verringert sich offenbar im Lause der Zeit und das Ueberlieferte selbst wird statt durch Verständniß neubelebt, mit unschöpfenscher Wiederholung zu Tode gehetzt. Aehnlich wie wir aus¬ drucksvolle Dichterworte oft in einem neuen ihnen nicht eigenen Sinne an¬ wenden, so scheint das einzig Eigenthümliche in diesen allbekannten und alt¬ überlieferten Darstellungen in dem neuen Sinn zu liegen, der ihnen durch die Verwendung auf Grabdenkmälern untergelegt wurde. Dieses Interesse ist indeß von nicht geringer Bedeutung: dem Numismatiker sind unter den Grenzboten I. I86!>, 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/261>, abgerufen am 28.09.2024.