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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Augen des Volks, welches der festen Meinung war, die Edelleute und Be¬
amten vernichteten die Urkunden, durch welche der Kaiser den gemeinen Leuten
Freiheiten und Privilegien verliehen habe.

Den Hauptnachdruck legt unser Verfasser aber nicht auf die Verkommen¬
heit, zu welcher die Regierung das Volk hatte herabsinken lassen, sondern auf
den entsetzlichen Zustand der öffentlichen Einrichtungen und auf die Unfähigkeit
fast aller Befehlshaber, welche gegen den nationalen Gegenkaiser ausgesandt
wurden, "Hier fehlte es vollständig an Truppen, dort an Geschützen, an
einem dritten Ort gingen die Flinten nicht los. Die auf Kriegsfuß gesetzte
Wolga-Armee besaß nicht eine einzige Ladung Pulver. Wo Kanonen waren,
fehlten gewiß die Lunten, wo Kanonen und Lunten aufgetrieben werden
konnten, mangelte es an Kugeln, -- wo sich diese fanden, sah man sich ver¬
geblich nach Kanonieren um. Da die Gießereien fast alle in Pugatschew's
Hände gefallen waren und er sich mit Hilfe derselben eine treffliche Artillerie
zusammengestellt hatte, mußte das nöthige Material für die Regierungö-
truppen -- aus Sibirien verschrieben werden." Von den Gouverneuren und
Generalen, denen die schwierige Aufgabe geworden war, in dieses Chaos
Ordnung zu bringen und die vorhandenen Kräfte zu sammeln, erwies sich
einer immer unfähiger, als der andere- General Karr, der das Commando
über die erste gegen die Aufständischen aufgestellte Armee führte, war so ohne
Kenntniß der Sachlage, daß er den überlegenen Feind mit einer Hand voll
Kosaken angriff, als habe er es nicht mit einer wohlorganisirten, durch ihre
Geschütze trefflich unterstützten Armee, sondern mit einer Räuberbande zu
thun. Bevor es zum Gefecht kam, ließ er sich darauf ein, vor seinen Truppen
mit einem von Pugatschew abgesandten Parlamentär darüber zu streiten,
auf welcher Seite das bessere Recht sei und Proclamation gegen Proclamation
verlesen zu lassen! Nach dem Gefecht ließ Pugatschew ihm mit bitterem Hohn
sagen, er möchte seine Herrscherin doch bitten, einen klügeren Heerführer zu
senden. -- Karrs Nachfolger Reinsdorp, der Gouverneur von Orenburg, war
fo schwach und furchtsam, daß sein Schreck über das wachsende Ansehen des
Rebellen den unzuverlässigen Kirgisen-Chan Nuraly erst die Augen darüber
öffnete, daß man es mit einem Bürgerkriege zu thun habe, dessen Ausgang
zweifelhaft sei. Reinsdorp beging sodann nicht nur die Thorheit, eine Pro¬
clamation zu erlassen, in welcher behauptet wurde, Pugatschew habe als früher
bestrafter Verbrecher aufgeschlitzte Naslöcher, er ließ das betreffende Schrift¬
stück dem Rebellen durch einen gefangenen gefährlichen Räuber übersenden.
Lachend wies der Pseudo-Kaiser aus seine gesunde Nase, der Bote des Gene¬
rals wurde einer seiner vertrautesten Genossen und die falschen Angaben der
Proclamation bildeten fortan ein Hauptargument für den Volksglauben an
die Echtheit des Prätendenten. Reinsdorp, den ein von Pugatschew's


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Augen des Volks, welches der festen Meinung war, die Edelleute und Be¬
amten vernichteten die Urkunden, durch welche der Kaiser den gemeinen Leuten
Freiheiten und Privilegien verliehen habe.

Den Hauptnachdruck legt unser Verfasser aber nicht auf die Verkommen¬
heit, zu welcher die Regierung das Volk hatte herabsinken lassen, sondern auf
den entsetzlichen Zustand der öffentlichen Einrichtungen und auf die Unfähigkeit
fast aller Befehlshaber, welche gegen den nationalen Gegenkaiser ausgesandt
wurden, „Hier fehlte es vollständig an Truppen, dort an Geschützen, an
einem dritten Ort gingen die Flinten nicht los. Die auf Kriegsfuß gesetzte
Wolga-Armee besaß nicht eine einzige Ladung Pulver. Wo Kanonen waren,
fehlten gewiß die Lunten, wo Kanonen und Lunten aufgetrieben werden
konnten, mangelte es an Kugeln, — wo sich diese fanden, sah man sich ver¬
geblich nach Kanonieren um. Da die Gießereien fast alle in Pugatschew's
Hände gefallen waren und er sich mit Hilfe derselben eine treffliche Artillerie
zusammengestellt hatte, mußte das nöthige Material für die Regierungö-
truppen — aus Sibirien verschrieben werden." Von den Gouverneuren und
Generalen, denen die schwierige Aufgabe geworden war, in dieses Chaos
Ordnung zu bringen und die vorhandenen Kräfte zu sammeln, erwies sich
einer immer unfähiger, als der andere- General Karr, der das Commando
über die erste gegen die Aufständischen aufgestellte Armee führte, war so ohne
Kenntniß der Sachlage, daß er den überlegenen Feind mit einer Hand voll
Kosaken angriff, als habe er es nicht mit einer wohlorganisirten, durch ihre
Geschütze trefflich unterstützten Armee, sondern mit einer Räuberbande zu
thun. Bevor es zum Gefecht kam, ließ er sich darauf ein, vor seinen Truppen
mit einem von Pugatschew abgesandten Parlamentär darüber zu streiten,
auf welcher Seite das bessere Recht sei und Proclamation gegen Proclamation
verlesen zu lassen! Nach dem Gefecht ließ Pugatschew ihm mit bitterem Hohn
sagen, er möchte seine Herrscherin doch bitten, einen klügeren Heerführer zu
senden. — Karrs Nachfolger Reinsdorp, der Gouverneur von Orenburg, war
fo schwach und furchtsam, daß sein Schreck über das wachsende Ansehen des
Rebellen den unzuverlässigen Kirgisen-Chan Nuraly erst die Augen darüber
öffnete, daß man es mit einem Bürgerkriege zu thun habe, dessen Ausgang
zweifelhaft sei. Reinsdorp beging sodann nicht nur die Thorheit, eine Pro¬
clamation zu erlassen, in welcher behauptet wurde, Pugatschew habe als früher
bestrafter Verbrecher aufgeschlitzte Naslöcher, er ließ das betreffende Schrift¬
stück dem Rebellen durch einen gefangenen gefährlichen Räuber übersenden.
Lachend wies der Pseudo-Kaiser aus seine gesunde Nase, der Bote des Gene¬
rals wurde einer seiner vertrautesten Genossen und die falschen Angaben der
Proclamation bildeten fortan ein Hauptargument für den Volksglauben an
die Echtheit des Prätendenten. Reinsdorp, den ein von Pugatschew's


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[0239] Augen des Volks, welches der festen Meinung war, die Edelleute und Be¬ amten vernichteten die Urkunden, durch welche der Kaiser den gemeinen Leuten Freiheiten und Privilegien verliehen habe. Den Hauptnachdruck legt unser Verfasser aber nicht auf die Verkommen¬ heit, zu welcher die Regierung das Volk hatte herabsinken lassen, sondern auf den entsetzlichen Zustand der öffentlichen Einrichtungen und auf die Unfähigkeit fast aller Befehlshaber, welche gegen den nationalen Gegenkaiser ausgesandt wurden, „Hier fehlte es vollständig an Truppen, dort an Geschützen, an einem dritten Ort gingen die Flinten nicht los. Die auf Kriegsfuß gesetzte Wolga-Armee besaß nicht eine einzige Ladung Pulver. Wo Kanonen waren, fehlten gewiß die Lunten, wo Kanonen und Lunten aufgetrieben werden konnten, mangelte es an Kugeln, — wo sich diese fanden, sah man sich ver¬ geblich nach Kanonieren um. Da die Gießereien fast alle in Pugatschew's Hände gefallen waren und er sich mit Hilfe derselben eine treffliche Artillerie zusammengestellt hatte, mußte das nöthige Material für die Regierungö- truppen — aus Sibirien verschrieben werden." Von den Gouverneuren und Generalen, denen die schwierige Aufgabe geworden war, in dieses Chaos Ordnung zu bringen und die vorhandenen Kräfte zu sammeln, erwies sich einer immer unfähiger, als der andere- General Karr, der das Commando über die erste gegen die Aufständischen aufgestellte Armee führte, war so ohne Kenntniß der Sachlage, daß er den überlegenen Feind mit einer Hand voll Kosaken angriff, als habe er es nicht mit einer wohlorganisirten, durch ihre Geschütze trefflich unterstützten Armee, sondern mit einer Räuberbande zu thun. Bevor es zum Gefecht kam, ließ er sich darauf ein, vor seinen Truppen mit einem von Pugatschew abgesandten Parlamentär darüber zu streiten, auf welcher Seite das bessere Recht sei und Proclamation gegen Proclamation verlesen zu lassen! Nach dem Gefecht ließ Pugatschew ihm mit bitterem Hohn sagen, er möchte seine Herrscherin doch bitten, einen klügeren Heerführer zu senden. — Karrs Nachfolger Reinsdorp, der Gouverneur von Orenburg, war fo schwach und furchtsam, daß sein Schreck über das wachsende Ansehen des Rebellen den unzuverlässigen Kirgisen-Chan Nuraly erst die Augen darüber öffnete, daß man es mit einem Bürgerkriege zu thun habe, dessen Ausgang zweifelhaft sei. Reinsdorp beging sodann nicht nur die Thorheit, eine Pro¬ clamation zu erlassen, in welcher behauptet wurde, Pugatschew habe als früher bestrafter Verbrecher aufgeschlitzte Naslöcher, er ließ das betreffende Schrift¬ stück dem Rebellen durch einen gefangenen gefährlichen Räuber übersenden. Lachend wies der Pseudo-Kaiser aus seine gesunde Nase, der Bote des Gene¬ rals wurde einer seiner vertrautesten Genossen und die falschen Angaben der Proclamation bildeten fortan ein Hauptargument für den Volksglauben an die Echtheit des Prätendenten. Reinsdorp, den ein von Pugatschew's 29*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/239>, abgerufen am 28.09.2024.