Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bloslegen, als es die in den beiden Reichsarchiven gefundenen Berichte der
Gouverneure thun. Während in der Correspondenz mit den Centralbehörden
immer noch ein gewisses Decorum beobachtet werden mußte, wenn die Be¬
richterstatter nicht aller Aussichten auf Rang und Orden verlustig gehen
sollten, zeigen sie sich im Verkehr mit College" und Subalternen in ihrer
ganzen Rathlosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit. "Die Papiere, welche mir
vorlagen", heißt es in der Einleitung, "sind großen Theils auf zerknitterten
Fetzen geschrieben, man sieht ihnen an, daß sie in irgend einem Winkel oder
Gebüsch abgefaßt wurden; so z. B. die Berichte der dorischen Kosaken-Ata-
mans über den Verrath ihrer Leute, die alle Spuren davon tragen, daß sie
in der Seelenangst vor Entdeckung durch die Abgefallenen eilig hingeworfen
sind. Sie sind lebendige Zeugen einer schrecklichen Vergangenheit, und weil
auf dem Feldzug, unter freiem Himmel oder in Schlupfwinkeln geschrieben,
reden sie deutlicher, als sorgfältig ausgearbeitete Tractate."

Wie unfähig die russischen Provinzialbehörden gewesen, das Wesen der
Pugatschew'schen Rebellion zu verstehen und irgend wirksame Maßregeln
gegen denselben zu ergreifen, so lange sie auf kleine Proportionen beschränkt
blieb, geht gleich aus den ersten Blättern unserer Schrift, einer Parallele
zwischen den Erfolgen der Aufrührer und den Vorkehrungen hervor, welche
gleichzeitig zu Zaryzin getroffen wurden, dem wichtigen Punkt, der die Be¬
ziehungen des östlichen Rußlands zu der dorischen Heimath Pugatschew's
vermittelte, dem Centrum der Linie, welche den an der Wolga geschlagenen
Funken an den Don leiten mußte. In Zaryzin hatten Bogomolow und
Chaillu, die Vorgänger Pugatschew's, ihre Hauptrolle gespielt, hier hatte
Bogomolow's "Kanzler" Dolotin seinen weitreichenden Einfluß geübt, Hieher
mußte sich Pugatschew wenden, wenn er nach Süden durchbrechen und die
Vereinigung mit seinen Landsleuten ins Werk richten wollte, die als Alt¬
gläubige und geschworene Feinde der neuen Militärreglements doppelt ge-
fährlich waren. Am 18. September 1773 war Pugatschew mit 300 Kosaken
vor Jaißk erschienen, am 20. hatte er Jelez, am 24. Rassipna, am 27. Nishni-
Oserna und Tatischewa, am 29. Tschernoretschin, am 1. October Sakmarsk
genommen, am 6. October war er vor Orenburg erschienen, um 8 Tage
später die erste der gegen ihn ausgesandten Armeen zu schlagen. In Zaryzin,
wohin sich sofort Aller Augen wandten, traf die erste Kunde von dem Er¬
scheinen des gefährlichen Abenteurers erst am 23. October ein, elf Tage, nach¬
dem sie in das entfernte Petersburg gelangt war. Der Kosak, der dem
Commandanten die wichtige Nachricht bringen sollte, hatte zur Reise von
Kasan bis Zaryzin volle fünfzehn Tage gebraucht; das "geheime Packet",
welches er mitbrachte, enthielt einige dürftige Notizen, denen man nur ansah,
daß der Verfasser, General v. Brandt, Gouverneur von Kasan, sich in todt-


bloslegen, als es die in den beiden Reichsarchiven gefundenen Berichte der
Gouverneure thun. Während in der Correspondenz mit den Centralbehörden
immer noch ein gewisses Decorum beobachtet werden mußte, wenn die Be¬
richterstatter nicht aller Aussichten auf Rang und Orden verlustig gehen
sollten, zeigen sie sich im Verkehr mit College» und Subalternen in ihrer
ganzen Rathlosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit. „Die Papiere, welche mir
vorlagen", heißt es in der Einleitung, „sind großen Theils auf zerknitterten
Fetzen geschrieben, man sieht ihnen an, daß sie in irgend einem Winkel oder
Gebüsch abgefaßt wurden; so z. B. die Berichte der dorischen Kosaken-Ata-
mans über den Verrath ihrer Leute, die alle Spuren davon tragen, daß sie
in der Seelenangst vor Entdeckung durch die Abgefallenen eilig hingeworfen
sind. Sie sind lebendige Zeugen einer schrecklichen Vergangenheit, und weil
auf dem Feldzug, unter freiem Himmel oder in Schlupfwinkeln geschrieben,
reden sie deutlicher, als sorgfältig ausgearbeitete Tractate."

Wie unfähig die russischen Provinzialbehörden gewesen, das Wesen der
Pugatschew'schen Rebellion zu verstehen und irgend wirksame Maßregeln
gegen denselben zu ergreifen, so lange sie auf kleine Proportionen beschränkt
blieb, geht gleich aus den ersten Blättern unserer Schrift, einer Parallele
zwischen den Erfolgen der Aufrührer und den Vorkehrungen hervor, welche
gleichzeitig zu Zaryzin getroffen wurden, dem wichtigen Punkt, der die Be¬
ziehungen des östlichen Rußlands zu der dorischen Heimath Pugatschew's
vermittelte, dem Centrum der Linie, welche den an der Wolga geschlagenen
Funken an den Don leiten mußte. In Zaryzin hatten Bogomolow und
Chaillu, die Vorgänger Pugatschew's, ihre Hauptrolle gespielt, hier hatte
Bogomolow's „Kanzler" Dolotin seinen weitreichenden Einfluß geübt, Hieher
mußte sich Pugatschew wenden, wenn er nach Süden durchbrechen und die
Vereinigung mit seinen Landsleuten ins Werk richten wollte, die als Alt¬
gläubige und geschworene Feinde der neuen Militärreglements doppelt ge-
fährlich waren. Am 18. September 1773 war Pugatschew mit 300 Kosaken
vor Jaißk erschienen, am 20. hatte er Jelez, am 24. Rassipna, am 27. Nishni-
Oserna und Tatischewa, am 29. Tschernoretschin, am 1. October Sakmarsk
genommen, am 6. October war er vor Orenburg erschienen, um 8 Tage
später die erste der gegen ihn ausgesandten Armeen zu schlagen. In Zaryzin,
wohin sich sofort Aller Augen wandten, traf die erste Kunde von dem Er¬
scheinen des gefährlichen Abenteurers erst am 23. October ein, elf Tage, nach¬
dem sie in das entfernte Petersburg gelangt war. Der Kosak, der dem
Commandanten die wichtige Nachricht bringen sollte, hatte zur Reise von
Kasan bis Zaryzin volle fünfzehn Tage gebraucht; das „geheime Packet",
welches er mitbrachte, enthielt einige dürftige Notizen, denen man nur ansah,
daß der Verfasser, General v. Brandt, Gouverneur von Kasan, sich in todt-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0232" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120421"/>
          <p xml:id="ID_660" prev="#ID_659"> bloslegen, als es die in den beiden Reichsarchiven gefundenen Berichte der<lb/>
Gouverneure thun. Während in der Correspondenz mit den Centralbehörden<lb/>
immer noch ein gewisses Decorum beobachtet werden mußte, wenn die Be¬<lb/>
richterstatter nicht aller Aussichten auf Rang und Orden verlustig gehen<lb/>
sollten, zeigen sie sich im Verkehr mit College» und Subalternen in ihrer<lb/>
ganzen Rathlosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit. &#x201E;Die Papiere, welche mir<lb/>
vorlagen", heißt es in der Einleitung, &#x201E;sind großen Theils auf zerknitterten<lb/>
Fetzen geschrieben, man sieht ihnen an, daß sie in irgend einem Winkel oder<lb/>
Gebüsch abgefaßt wurden; so z. B. die Berichte der dorischen Kosaken-Ata-<lb/>
mans über den Verrath ihrer Leute, die alle Spuren davon tragen, daß sie<lb/>
in der Seelenangst vor Entdeckung durch die Abgefallenen eilig hingeworfen<lb/>
sind. Sie sind lebendige Zeugen einer schrecklichen Vergangenheit, und weil<lb/>
auf dem Feldzug, unter freiem Himmel oder in Schlupfwinkeln geschrieben,<lb/>
reden sie deutlicher, als sorgfältig ausgearbeitete Tractate."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_661" next="#ID_662"> Wie unfähig die russischen Provinzialbehörden gewesen, das Wesen der<lb/>
Pugatschew'schen Rebellion zu verstehen und irgend wirksame Maßregeln<lb/>
gegen denselben zu ergreifen, so lange sie auf kleine Proportionen beschränkt<lb/>
blieb, geht gleich aus den ersten Blättern unserer Schrift, einer Parallele<lb/>
zwischen den Erfolgen der Aufrührer und den Vorkehrungen hervor, welche<lb/>
gleichzeitig zu Zaryzin getroffen wurden, dem wichtigen Punkt, der die Be¬<lb/>
ziehungen des östlichen Rußlands zu der dorischen Heimath Pugatschew's<lb/>
vermittelte, dem Centrum der Linie, welche den an der Wolga geschlagenen<lb/>
Funken an den Don leiten mußte. In Zaryzin hatten Bogomolow und<lb/>
Chaillu, die Vorgänger Pugatschew's, ihre Hauptrolle gespielt, hier hatte<lb/>
Bogomolow's &#x201E;Kanzler" Dolotin seinen weitreichenden Einfluß geübt, Hieher<lb/>
mußte sich Pugatschew wenden, wenn er nach Süden durchbrechen und die<lb/>
Vereinigung mit seinen Landsleuten ins Werk richten wollte, die als Alt¬<lb/>
gläubige und geschworene Feinde der neuen Militärreglements doppelt ge-<lb/>
fährlich waren. Am 18. September 1773 war Pugatschew mit 300 Kosaken<lb/>
vor Jaißk erschienen, am 20. hatte er Jelez, am 24. Rassipna, am 27. Nishni-<lb/>
Oserna und Tatischewa, am 29. Tschernoretschin, am 1. October Sakmarsk<lb/>
genommen, am 6. October war er vor Orenburg erschienen, um 8 Tage<lb/>
später die erste der gegen ihn ausgesandten Armeen zu schlagen. In Zaryzin,<lb/>
wohin sich sofort Aller Augen wandten, traf die erste Kunde von dem Er¬<lb/>
scheinen des gefährlichen Abenteurers erst am 23. October ein, elf Tage, nach¬<lb/>
dem sie in das entfernte Petersburg gelangt war. Der Kosak, der dem<lb/>
Commandanten die wichtige Nachricht bringen sollte, hatte zur Reise von<lb/>
Kasan bis Zaryzin volle fünfzehn Tage gebraucht; das &#x201E;geheime Packet",<lb/>
welches er mitbrachte, enthielt einige dürftige Notizen, denen man nur ansah,<lb/>
daß der Verfasser, General v. Brandt, Gouverneur von Kasan, sich in todt-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0232] bloslegen, als es die in den beiden Reichsarchiven gefundenen Berichte der Gouverneure thun. Während in der Correspondenz mit den Centralbehörden immer noch ein gewisses Decorum beobachtet werden mußte, wenn die Be¬ richterstatter nicht aller Aussichten auf Rang und Orden verlustig gehen sollten, zeigen sie sich im Verkehr mit College» und Subalternen in ihrer ganzen Rathlosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit. „Die Papiere, welche mir vorlagen", heißt es in der Einleitung, „sind großen Theils auf zerknitterten Fetzen geschrieben, man sieht ihnen an, daß sie in irgend einem Winkel oder Gebüsch abgefaßt wurden; so z. B. die Berichte der dorischen Kosaken-Ata- mans über den Verrath ihrer Leute, die alle Spuren davon tragen, daß sie in der Seelenangst vor Entdeckung durch die Abgefallenen eilig hingeworfen sind. Sie sind lebendige Zeugen einer schrecklichen Vergangenheit, und weil auf dem Feldzug, unter freiem Himmel oder in Schlupfwinkeln geschrieben, reden sie deutlicher, als sorgfältig ausgearbeitete Tractate." Wie unfähig die russischen Provinzialbehörden gewesen, das Wesen der Pugatschew'schen Rebellion zu verstehen und irgend wirksame Maßregeln gegen denselben zu ergreifen, so lange sie auf kleine Proportionen beschränkt blieb, geht gleich aus den ersten Blättern unserer Schrift, einer Parallele zwischen den Erfolgen der Aufrührer und den Vorkehrungen hervor, welche gleichzeitig zu Zaryzin getroffen wurden, dem wichtigen Punkt, der die Be¬ ziehungen des östlichen Rußlands zu der dorischen Heimath Pugatschew's vermittelte, dem Centrum der Linie, welche den an der Wolga geschlagenen Funken an den Don leiten mußte. In Zaryzin hatten Bogomolow und Chaillu, die Vorgänger Pugatschew's, ihre Hauptrolle gespielt, hier hatte Bogomolow's „Kanzler" Dolotin seinen weitreichenden Einfluß geübt, Hieher mußte sich Pugatschew wenden, wenn er nach Süden durchbrechen und die Vereinigung mit seinen Landsleuten ins Werk richten wollte, die als Alt¬ gläubige und geschworene Feinde der neuen Militärreglements doppelt ge- fährlich waren. Am 18. September 1773 war Pugatschew mit 300 Kosaken vor Jaißk erschienen, am 20. hatte er Jelez, am 24. Rassipna, am 27. Nishni- Oserna und Tatischewa, am 29. Tschernoretschin, am 1. October Sakmarsk genommen, am 6. October war er vor Orenburg erschienen, um 8 Tage später die erste der gegen ihn ausgesandten Armeen zu schlagen. In Zaryzin, wohin sich sofort Aller Augen wandten, traf die erste Kunde von dem Er¬ scheinen des gefährlichen Abenteurers erst am 23. October ein, elf Tage, nach¬ dem sie in das entfernte Petersburg gelangt war. Der Kosak, der dem Commandanten die wichtige Nachricht bringen sollte, hatte zur Reise von Kasan bis Zaryzin volle fünfzehn Tage gebraucht; das „geheime Packet", welches er mitbrachte, enthielt einige dürftige Notizen, denen man nur ansah, daß der Verfasser, General v. Brandt, Gouverneur von Kasan, sich in todt-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/232
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/232>, abgerufen am 28.09.2024.