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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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der Action durchaus anschaulich machen, und er merkt wahrscheinlich nicht,
daß seine Heldin seitdem in einer Weise unter den Männern umherfährt und
Wirkungen austheilt, welche an der wirklichen Sophoniba äußerst anstößig
gewesen wären und sich zu den benutzten Situationen der alten Anek¬
dote gar nicht mehr fügen. Freilich, auch die bescheidene Zuthat, ja treu¬
stes Anschmiegen an die historische Ueberlieferung vermögen jene innere
Dissonanz nicht wegzubringen, welche fast immer zwischen altem Sagen¬
stoff und dem Gemüthsleben des modernen Dramas ist. Wir sind sehr
gewöhnt, hellenische Heidenzeit in der Kunst zu verwerthen, und haben viel¬
leicht das unbefangene Urtheil über zahlreiches Peinliche in der Schule ver¬
loren. Aber einer späteren Zeit wird doch die Iphigenie von Göthe nebst
dem milden König Thoas und Orest trotz ihrer edlen Poesie als ein unheim¬
liches Gedicht erscheinen, in welchem die Tochter einer Familie mit menschen¬
fresserischen Gewohnheiten in einem Lande, wo Menschen geopfert werden, so
sinnig über das Schicksal der Frauen reflectirt. -- Nicht hier ist der Ort
auszuführen, wie die Charaktere leiden; je mehr neue Handlung ihnen zuer¬
funden wird, um so mehr verlieren sie die Färbung, welche sie in der ursprüng¬
lichen Erzählung hatten, die Personen und die Situationen schweben zuletzt
ganz in der Luft und sind darauf angewiesen, sich in den traditionell über¬
lieferten Situationen unserer Bühne pathetisch declamirend und schönseelig
zu bewegen.

Aber es muß hier auch bemerkt werden, daß Geibel bei diesem Stoff
zwingende Veranlassung hatte, einen Theil der Handlung neu zu erfinden,
denn die Heldin Sophoniba verharrt nach dem ersten Momente des Fußfalls
vor Masinissa in der Erzählung thatlos bis zu dem Moment, wo sie den
Giftbecher leert, und Masinissa, der weit heftigere Bewegungen und Wand¬
lungen hat, ist zum ersten Helden nicht geeignet.

Auch das Stück Geibel's löst nicht das alte Problem: ob der Stoff So¬
phoniba überhaupt sür das Drama brauchbar sei. Wer aber ein Dichter ist,
darf das nicht von vornherein verneinen, denn er soll das fröhliche Vertrauen
behalten, daß die Dichterkraft über jedes stoffliche Hinderniß zu siegen ver¬
mag; es bedarf nur des rechten Mannes und der rechten Stunde. In der
That geht es mit manchen dieser technischen Schwierigkeiten wie mit dem Et
des Columbus: ein kleiner Eindruck in die harte Schale und das Ungefüge
steht auf den Bretern. Dieses Blatt hat durchaus nicht den Ehrgeiz, einen neuen
Plan vielen berühmten Versuchen gegenüberzustellen; nur auf einen Umstand soll
hier aufmerksam gemacht werden. Das Theilstück derhistorischen Anekdote, welches
bis jetzt noch immer -- so viel dem Schreiber bekannt -- zum Drama verwerthet
wurde, die Ereignisse von der Niederlage des Syphax bis zum Tode der Sopho¬
niba enthalten in Wahrheit nur Stoff für drei große Scenen: Kniefall der Heldin


der Action durchaus anschaulich machen, und er merkt wahrscheinlich nicht,
daß seine Heldin seitdem in einer Weise unter den Männern umherfährt und
Wirkungen austheilt, welche an der wirklichen Sophoniba äußerst anstößig
gewesen wären und sich zu den benutzten Situationen der alten Anek¬
dote gar nicht mehr fügen. Freilich, auch die bescheidene Zuthat, ja treu¬
stes Anschmiegen an die historische Ueberlieferung vermögen jene innere
Dissonanz nicht wegzubringen, welche fast immer zwischen altem Sagen¬
stoff und dem Gemüthsleben des modernen Dramas ist. Wir sind sehr
gewöhnt, hellenische Heidenzeit in der Kunst zu verwerthen, und haben viel¬
leicht das unbefangene Urtheil über zahlreiches Peinliche in der Schule ver¬
loren. Aber einer späteren Zeit wird doch die Iphigenie von Göthe nebst
dem milden König Thoas und Orest trotz ihrer edlen Poesie als ein unheim¬
liches Gedicht erscheinen, in welchem die Tochter einer Familie mit menschen¬
fresserischen Gewohnheiten in einem Lande, wo Menschen geopfert werden, so
sinnig über das Schicksal der Frauen reflectirt. — Nicht hier ist der Ort
auszuführen, wie die Charaktere leiden; je mehr neue Handlung ihnen zuer¬
funden wird, um so mehr verlieren sie die Färbung, welche sie in der ursprüng¬
lichen Erzählung hatten, die Personen und die Situationen schweben zuletzt
ganz in der Luft und sind darauf angewiesen, sich in den traditionell über¬
lieferten Situationen unserer Bühne pathetisch declamirend und schönseelig
zu bewegen.

Aber es muß hier auch bemerkt werden, daß Geibel bei diesem Stoff
zwingende Veranlassung hatte, einen Theil der Handlung neu zu erfinden,
denn die Heldin Sophoniba verharrt nach dem ersten Momente des Fußfalls
vor Masinissa in der Erzählung thatlos bis zu dem Moment, wo sie den
Giftbecher leert, und Masinissa, der weit heftigere Bewegungen und Wand¬
lungen hat, ist zum ersten Helden nicht geeignet.

Auch das Stück Geibel's löst nicht das alte Problem: ob der Stoff So¬
phoniba überhaupt sür das Drama brauchbar sei. Wer aber ein Dichter ist,
darf das nicht von vornherein verneinen, denn er soll das fröhliche Vertrauen
behalten, daß die Dichterkraft über jedes stoffliche Hinderniß zu siegen ver¬
mag; es bedarf nur des rechten Mannes und der rechten Stunde. In der
That geht es mit manchen dieser technischen Schwierigkeiten wie mit dem Et
des Columbus: ein kleiner Eindruck in die harte Schale und das Ungefüge
steht auf den Bretern. Dieses Blatt hat durchaus nicht den Ehrgeiz, einen neuen
Plan vielen berühmten Versuchen gegenüberzustellen; nur auf einen Umstand soll
hier aufmerksam gemacht werden. Das Theilstück derhistorischen Anekdote, welches
bis jetzt noch immer — so viel dem Schreiber bekannt — zum Drama verwerthet
wurde, die Ereignisse von der Niederlage des Syphax bis zum Tode der Sopho¬
niba enthalten in Wahrheit nur Stoff für drei große Scenen: Kniefall der Heldin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/179>, abgerufen am 28.09.2024.