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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Sovhomsve, Tragödie von Emanuel Geibel.

Stuttgart, I. G. Cotta. 1868.

Der Dichter ist der berühmteste unter den lebenden deutschen Lyrikern,
er ist einer der jüngsten und letzten Dichter aus jener großen Blüthezeit
deutscher Lyrik, welche die hundert Jahre von Klopstock bis zu den politischen
Kämpfen der Gegenwart umsaßt, er ist uns auch als Patriot ein werther
Bundesgenosse und wir wünschen bei der Besprechung seines letzten gedruckten
Dramas ihm völlig die Achtung zu erweisen, welche er in seinem Volke be¬
anspruchen darf. Denn, für uns, die wir mit anderen Mitteln und auf
anderen Bahnen die idealen Bedürfnisse der Nation in die Wirklichkeit um¬
zusetzen suchen, ist sein Haupt durch die letzten Strahlen einer scheidenden
Sonne deutscher Poesie verklärt. Nicht als ob unserem Leben die Poesie
selbst schwante -- sie wird dem Deutschen nicht vergehen, solange er auf der
Erde dauert --; aber das künstlerische Gestalten ringt in der Gegenwart wieder
in neuer Weise, jugendlich und unbeholfen, oft noch mit schwacher Kraft dar¬
nach, die übermächtigen realen Bedingungen unseres Lebens poetisch zu ver¬
klären. Und bei dieser modernen Kunst ist die Lyrik nicht mehr, wie sie in
der nächst vergangenen Periode war, der Quell, in welchem am schönsten und
reichlichsten das poetische Empfinden herausquillt.

Ungern übt dieses Blatt jetzt Kritik an poetischen Werken. Die Zeit
liegt hinter uns, wo falsche Richtungen eine ernste Gefahr bereiteten, der
angestrengte Kampf um den deutschen Staat hat fast alle Talente, auch die
schreibenden, auf seinen Schlachtfeldern gesammelt; wer jetzt freudig und mit
Behagen der Poesie allein lebt, der hat, so scheint uns, besondern Anspruch
auf Anerkennung und freundliches Entgegenkommen, denn er ist ein Be¬
wahrer und Fortbildner des gemüthvollen Ausdrucks, welchen unsere Nation
während ihrer politischen und socialen Arbeit durchaus nicht missen darf.
Deshalb soll hier das neue Drama von Geibel vorzugsweise dazu benutzt
werden, um einen einzelnen Proceß des dichterischen Jdealisirens deutlich zu
machen: die Umwandlung einer geschichtlichen Anekdote in eine dramatische
Idee und Handlung.


Grenzboten I. 1869. 21
Sovhomsve, Tragödie von Emanuel Geibel.

Stuttgart, I. G. Cotta. 1868.

Der Dichter ist der berühmteste unter den lebenden deutschen Lyrikern,
er ist einer der jüngsten und letzten Dichter aus jener großen Blüthezeit
deutscher Lyrik, welche die hundert Jahre von Klopstock bis zu den politischen
Kämpfen der Gegenwart umsaßt, er ist uns auch als Patriot ein werther
Bundesgenosse und wir wünschen bei der Besprechung seines letzten gedruckten
Dramas ihm völlig die Achtung zu erweisen, welche er in seinem Volke be¬
anspruchen darf. Denn, für uns, die wir mit anderen Mitteln und auf
anderen Bahnen die idealen Bedürfnisse der Nation in die Wirklichkeit um¬
zusetzen suchen, ist sein Haupt durch die letzten Strahlen einer scheidenden
Sonne deutscher Poesie verklärt. Nicht als ob unserem Leben die Poesie
selbst schwante — sie wird dem Deutschen nicht vergehen, solange er auf der
Erde dauert —; aber das künstlerische Gestalten ringt in der Gegenwart wieder
in neuer Weise, jugendlich und unbeholfen, oft noch mit schwacher Kraft dar¬
nach, die übermächtigen realen Bedingungen unseres Lebens poetisch zu ver¬
klären. Und bei dieser modernen Kunst ist die Lyrik nicht mehr, wie sie in
der nächst vergangenen Periode war, der Quell, in welchem am schönsten und
reichlichsten das poetische Empfinden herausquillt.

Ungern übt dieses Blatt jetzt Kritik an poetischen Werken. Die Zeit
liegt hinter uns, wo falsche Richtungen eine ernste Gefahr bereiteten, der
angestrengte Kampf um den deutschen Staat hat fast alle Talente, auch die
schreibenden, auf seinen Schlachtfeldern gesammelt; wer jetzt freudig und mit
Behagen der Poesie allein lebt, der hat, so scheint uns, besondern Anspruch
auf Anerkennung und freundliches Entgegenkommen, denn er ist ein Be¬
wahrer und Fortbildner des gemüthvollen Ausdrucks, welchen unsere Nation
während ihrer politischen und socialen Arbeit durchaus nicht missen darf.
Deshalb soll hier das neue Drama von Geibel vorzugsweise dazu benutzt
werden, um einen einzelnen Proceß des dichterischen Jdealisirens deutlich zu
machen: die Umwandlung einer geschichtlichen Anekdote in eine dramatische
Idee und Handlung.


Grenzboten I. 1869. 21
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[0173] Sovhomsve, Tragödie von Emanuel Geibel. Stuttgart, I. G. Cotta. 1868. Der Dichter ist der berühmteste unter den lebenden deutschen Lyrikern, er ist einer der jüngsten und letzten Dichter aus jener großen Blüthezeit deutscher Lyrik, welche die hundert Jahre von Klopstock bis zu den politischen Kämpfen der Gegenwart umsaßt, er ist uns auch als Patriot ein werther Bundesgenosse und wir wünschen bei der Besprechung seines letzten gedruckten Dramas ihm völlig die Achtung zu erweisen, welche er in seinem Volke be¬ anspruchen darf. Denn, für uns, die wir mit anderen Mitteln und auf anderen Bahnen die idealen Bedürfnisse der Nation in die Wirklichkeit um¬ zusetzen suchen, ist sein Haupt durch die letzten Strahlen einer scheidenden Sonne deutscher Poesie verklärt. Nicht als ob unserem Leben die Poesie selbst schwante — sie wird dem Deutschen nicht vergehen, solange er auf der Erde dauert —; aber das künstlerische Gestalten ringt in der Gegenwart wieder in neuer Weise, jugendlich und unbeholfen, oft noch mit schwacher Kraft dar¬ nach, die übermächtigen realen Bedingungen unseres Lebens poetisch zu ver¬ klären. Und bei dieser modernen Kunst ist die Lyrik nicht mehr, wie sie in der nächst vergangenen Periode war, der Quell, in welchem am schönsten und reichlichsten das poetische Empfinden herausquillt. Ungern übt dieses Blatt jetzt Kritik an poetischen Werken. Die Zeit liegt hinter uns, wo falsche Richtungen eine ernste Gefahr bereiteten, der angestrengte Kampf um den deutschen Staat hat fast alle Talente, auch die schreibenden, auf seinen Schlachtfeldern gesammelt; wer jetzt freudig und mit Behagen der Poesie allein lebt, der hat, so scheint uns, besondern Anspruch auf Anerkennung und freundliches Entgegenkommen, denn er ist ein Be¬ wahrer und Fortbildner des gemüthvollen Ausdrucks, welchen unsere Nation während ihrer politischen und socialen Arbeit durchaus nicht missen darf. Deshalb soll hier das neue Drama von Geibel vorzugsweise dazu benutzt werden, um einen einzelnen Proceß des dichterischen Jdealisirens deutlich zu machen: die Umwandlung einer geschichtlichen Anekdote in eine dramatische Idee und Handlung. Grenzboten I. 1869. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/173>, abgerufen am 28.09.2024.