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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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der Parteien ins Auge, von dem zwei Theile uns vorliegen. Der erste be¬
handelt das südliche und westliche Deutschland, der zweite eben erschienene
die deutschen Länder der östreichischen Monarchie; die Erzählung, wie die
nationale Partei sich in Preußen entwickelt und die Befreiung vollführt,
ist Entwurf geblieben: ein wahrer Verlust, denn dieser Theil wäre ohne
Zweifel die Krone des Werkes geworden. Inzwischen wollen wir dankbar
für den zweiten sein, welcher fast vollendet in Perthes' Nachlaß gefunden
ward: nur ein Capitel, welches das wiener Volksleben am Ende des vorigen
Jahrhunderts schildern sollte, fehlt, weil es die unfertige Gestalt einer bloßen
Skizze hatte. Herausgegeben ist es von Prof. A. Springer, der um so mehr
dazu berufen war, als sein moralischer Antheil an dem Buche nicht gering
ist. indem Perthes mit ihm als eingehendem Kenner der östreichischen Zu¬
stände Vieles durchgesprochen hat. Mögen ihm. der jetzt im Süden die Her-
stellung seiner Gesundheit sucht, die Luft oft Kunde bringen von dem Lobe,
das die deutsche Presse einem Werke spendet, welches er als Freund und
gründlicher Kenner Oestreichs hat fördern helfen.

Wenden wir uns nun zu dem Buche selbst, so war gewiß kein Grund
für den Verfasser in der noch von ihm geschriebenen Vorrede sich zu recht¬
fertigen oder zu entschuldigen "wenn er den nicht unbekannten, aber den Meisten
unzugänglichen Stoff in Bewegung zu bringen" helfen wollte. Gewiß war
Vieles davon schon bekannt, Vieles so weit wir wissen auch nicht; vor Allem
aber ist die Auffassung durchaus eigenthümlich, die Einheit der Gedanken impo-
nirend und die Darstellung so durchsichtig, daß man fast nirgend das Fehlen
der letzten Hand bemerkt.

Das erste Buch schildert die herkömmliche Geltung der überlieferten Zu¬
stände. In fast allen Erbländern war der Grund und Boden überwiegend in den
Händen größerer Grundherren, welche ihre Besitzungen von Bauern gegen
Zinsen und Frohnden bewirthschaften ließen; Hypotheken gab es keine, die
Lehrs- und Fideicommißqualität erschwerte allen Credit, die bäuerlichen Nutz¬
nießer konnten bei ihren Abgaben sich nur eben erhalten. So ward das
Land bestellt wie vor hundert Jahren, der Sporn zum Fortschritt fehlte, die
Städte und Märkte, welche nicht unter Grundherren standen, hatten mannig¬
faltig geartete Gemeindeverfassungen, deren Rechte aber, wie im übrigen
Deutschland, meist zur Form herabgesunken waren. Die Landtage, aus Prä¬
laten. Herren, Rittern und landesfürstlichen Städten zusammengesetzt, waren
zu schwach um selbst bedeutende politische Anordnungen durchzuführen, aber
stark genug um dem Landesfürsten jede kräftige Regierung unmöglich zu
machen; in dem langen Kampfe von Fürsten und Ständen waren die Rechte
beider in einen unentwirrbaren Knäuel zusammengelaufen, nirgend war
zwischen dem Geschäftskreis der verschiedenen Behörden eine feste Grenze, es


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der Parteien ins Auge, von dem zwei Theile uns vorliegen. Der erste be¬
handelt das südliche und westliche Deutschland, der zweite eben erschienene
die deutschen Länder der östreichischen Monarchie; die Erzählung, wie die
nationale Partei sich in Preußen entwickelt und die Befreiung vollführt,
ist Entwurf geblieben: ein wahrer Verlust, denn dieser Theil wäre ohne
Zweifel die Krone des Werkes geworden. Inzwischen wollen wir dankbar
für den zweiten sein, welcher fast vollendet in Perthes' Nachlaß gefunden
ward: nur ein Capitel, welches das wiener Volksleben am Ende des vorigen
Jahrhunderts schildern sollte, fehlt, weil es die unfertige Gestalt einer bloßen
Skizze hatte. Herausgegeben ist es von Prof. A. Springer, der um so mehr
dazu berufen war, als sein moralischer Antheil an dem Buche nicht gering
ist. indem Perthes mit ihm als eingehendem Kenner der östreichischen Zu¬
stände Vieles durchgesprochen hat. Mögen ihm. der jetzt im Süden die Her-
stellung seiner Gesundheit sucht, die Luft oft Kunde bringen von dem Lobe,
das die deutsche Presse einem Werke spendet, welches er als Freund und
gründlicher Kenner Oestreichs hat fördern helfen.

Wenden wir uns nun zu dem Buche selbst, so war gewiß kein Grund
für den Verfasser in der noch von ihm geschriebenen Vorrede sich zu recht¬
fertigen oder zu entschuldigen „wenn er den nicht unbekannten, aber den Meisten
unzugänglichen Stoff in Bewegung zu bringen" helfen wollte. Gewiß war
Vieles davon schon bekannt, Vieles so weit wir wissen auch nicht; vor Allem
aber ist die Auffassung durchaus eigenthümlich, die Einheit der Gedanken impo-
nirend und die Darstellung so durchsichtig, daß man fast nirgend das Fehlen
der letzten Hand bemerkt.

Das erste Buch schildert die herkömmliche Geltung der überlieferten Zu¬
stände. In fast allen Erbländern war der Grund und Boden überwiegend in den
Händen größerer Grundherren, welche ihre Besitzungen von Bauern gegen
Zinsen und Frohnden bewirthschaften ließen; Hypotheken gab es keine, die
Lehrs- und Fideicommißqualität erschwerte allen Credit, die bäuerlichen Nutz¬
nießer konnten bei ihren Abgaben sich nur eben erhalten. So ward das
Land bestellt wie vor hundert Jahren, der Sporn zum Fortschritt fehlte, die
Städte und Märkte, welche nicht unter Grundherren standen, hatten mannig¬
faltig geartete Gemeindeverfassungen, deren Rechte aber, wie im übrigen
Deutschland, meist zur Form herabgesunken waren. Die Landtage, aus Prä¬
laten. Herren, Rittern und landesfürstlichen Städten zusammengesetzt, waren
zu schwach um selbst bedeutende politische Anordnungen durchzuführen, aber
stark genug um dem Landesfürsten jede kräftige Regierung unmöglich zu
machen; in dem langen Kampfe von Fürsten und Ständen waren die Rechte
beider in einen unentwirrbaren Knäuel zusammengelaufen, nirgend war
zwischen dem Geschäftskreis der verschiedenen Behörden eine feste Grenze, es


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[0134] der Parteien ins Auge, von dem zwei Theile uns vorliegen. Der erste be¬ handelt das südliche und westliche Deutschland, der zweite eben erschienene die deutschen Länder der östreichischen Monarchie; die Erzählung, wie die nationale Partei sich in Preußen entwickelt und die Befreiung vollführt, ist Entwurf geblieben: ein wahrer Verlust, denn dieser Theil wäre ohne Zweifel die Krone des Werkes geworden. Inzwischen wollen wir dankbar für den zweiten sein, welcher fast vollendet in Perthes' Nachlaß gefunden ward: nur ein Capitel, welches das wiener Volksleben am Ende des vorigen Jahrhunderts schildern sollte, fehlt, weil es die unfertige Gestalt einer bloßen Skizze hatte. Herausgegeben ist es von Prof. A. Springer, der um so mehr dazu berufen war, als sein moralischer Antheil an dem Buche nicht gering ist. indem Perthes mit ihm als eingehendem Kenner der östreichischen Zu¬ stände Vieles durchgesprochen hat. Mögen ihm. der jetzt im Süden die Her- stellung seiner Gesundheit sucht, die Luft oft Kunde bringen von dem Lobe, das die deutsche Presse einem Werke spendet, welches er als Freund und gründlicher Kenner Oestreichs hat fördern helfen. Wenden wir uns nun zu dem Buche selbst, so war gewiß kein Grund für den Verfasser in der noch von ihm geschriebenen Vorrede sich zu recht¬ fertigen oder zu entschuldigen „wenn er den nicht unbekannten, aber den Meisten unzugänglichen Stoff in Bewegung zu bringen" helfen wollte. Gewiß war Vieles davon schon bekannt, Vieles so weit wir wissen auch nicht; vor Allem aber ist die Auffassung durchaus eigenthümlich, die Einheit der Gedanken impo- nirend und die Darstellung so durchsichtig, daß man fast nirgend das Fehlen der letzten Hand bemerkt. Das erste Buch schildert die herkömmliche Geltung der überlieferten Zu¬ stände. In fast allen Erbländern war der Grund und Boden überwiegend in den Händen größerer Grundherren, welche ihre Besitzungen von Bauern gegen Zinsen und Frohnden bewirthschaften ließen; Hypotheken gab es keine, die Lehrs- und Fideicommißqualität erschwerte allen Credit, die bäuerlichen Nutz¬ nießer konnten bei ihren Abgaben sich nur eben erhalten. So ward das Land bestellt wie vor hundert Jahren, der Sporn zum Fortschritt fehlte, die Städte und Märkte, welche nicht unter Grundherren standen, hatten mannig¬ faltig geartete Gemeindeverfassungen, deren Rechte aber, wie im übrigen Deutschland, meist zur Form herabgesunken waren. Die Landtage, aus Prä¬ laten. Herren, Rittern und landesfürstlichen Städten zusammengesetzt, waren zu schwach um selbst bedeutende politische Anordnungen durchzuführen, aber stark genug um dem Landesfürsten jede kräftige Regierung unmöglich zu machen; in dem langen Kampfe von Fürsten und Ständen waren die Rechte beider in einen unentwirrbaren Knäuel zusammengelaufen, nirgend war zwischen dem Geschäftskreis der verschiedenen Behörden eine feste Grenze, es 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/134>, abgerufen am 28.09.2024.