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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Minuten dehnen sich zur Ewigkeit und Stunden vergehen wie Secunden.
Selten hat der Commaudirende die Muße und Ruhe, in entscheidenden
Augenblicken nach seiner Uhr zu sehen, und es ist eine gewöhnliche Erschei¬
nung, daß zwei Berichte über dasselbe Ereigniß, z. B. gleichzeitiges Eintreten
zweier Compagnien in ein Dorfgesecht, ganz verschiedene Tagesstunden
angeben. Ob der Feind einmal oder öfter in den Besitz eines wichtigen
Terrainabschnittes gekommen und ob er um Mittag von Bataillon A.
oder um 2 Uhr von Bataillon M. vertrieben worden, bleibt vielleicht jahre¬
lang Gegenstand eifriger Erörterung. Wer zuerst eine Schanze erklettert, in
eine Batterie gedrungen, ist oft gar nicht festzustellen, was gleichzeitig und
was hinter einander geschehen bleibt nicht selten den Handelnden selbst ganz
undeutlich. Oft wird nicht einmal der Ort klar, wo ein wichtiges Ereigniß
stattgefunden. Hat das tapfere Regiment den Feind aus Langenhof, oder
aus Stresetitz herausgeschlagen? - Niemand im Regiment weiß es: erst kam
ein Hohlweg, dann ein weißes Gehöft, dann der Angriff, dann kurze Rast,
dann weiteres Vorrücken. Sucht einige Wochen später nach: es sind mehrere
Hohlwege und viele weiße Gehöfte; vielleicht standen Weidenbäume in der
Nähe: sie sind am Abend jenes Tages von andern Truppen beim Bivouak
gefällt. -- Dazu kommt, daß Auge und Ohr in diesen Stunden der höchsten
Spannung eigenthümlichen Störungen unterworfen sind und daß auch sehr
wahrhafte und feste Männer der Gefahr unterliegen, in das, was sie gesehen
und erlebt haben, auffallende Täuschungen der Sinne und der Phantasie
hineinzutragen. Fast Jedem begegnet, daß einzelne Wahrnehmungen ihm
übermächtig werden und die gleichmäßige Auffassung des Gesichtsbildes
beirren. Der Eine sah den Commandeur fallen, der Andere, welcher dicht
daneben stand, ihn fortreiten; der eine Rapport spricht von Wolken feind¬
licher Cavalerie in Schußweite, der andere leugnet vor demselben Ereigniß
jeden Pferdefuß im Gesichtsfelde. Während der Schlacht bei Königgrätz
wundert sich ein tüchtiger Commandeur, daß es so still rings um seine
Truppe ist, gar kein Geschützfeuer zu hören: er reitet wenige Schritte und
sieht dicht neben sich 48 Kanonen in eifriger Arbeit. -- Endlich aber -- und
dies ist die häufigste Schwierigkeit -- wird der Mithandelnde durch die
stärksten Motive des Ehrgeizes und der Selbstliebe getrieben, seinen Antheil
an der Action zu überschätzen, Mißerfolge zu verdecken, errungene Vortheile
als groß und bedeutsam darzustellen, er färbt zuweilen mit Absicht; aber auch
der ehrlichste Bericht erhält leicht einen Zusatz, der erst chemisch auszuscheiden
ist, bevor der Bericht brauchbar wird.

Ein officielles Werk, welches aus solchem massenhaften Detail zusammen¬
gesetzt werden muß, fordert viel Menschenkenntniß, Tact und Scharfsinn des
Schreibenden. Es wird dennoch darauf verzichten müssen, eine genaue und


Minuten dehnen sich zur Ewigkeit und Stunden vergehen wie Secunden.
Selten hat der Commaudirende die Muße und Ruhe, in entscheidenden
Augenblicken nach seiner Uhr zu sehen, und es ist eine gewöhnliche Erschei¬
nung, daß zwei Berichte über dasselbe Ereigniß, z. B. gleichzeitiges Eintreten
zweier Compagnien in ein Dorfgesecht, ganz verschiedene Tagesstunden
angeben. Ob der Feind einmal oder öfter in den Besitz eines wichtigen
Terrainabschnittes gekommen und ob er um Mittag von Bataillon A.
oder um 2 Uhr von Bataillon M. vertrieben worden, bleibt vielleicht jahre¬
lang Gegenstand eifriger Erörterung. Wer zuerst eine Schanze erklettert, in
eine Batterie gedrungen, ist oft gar nicht festzustellen, was gleichzeitig und
was hinter einander geschehen bleibt nicht selten den Handelnden selbst ganz
undeutlich. Oft wird nicht einmal der Ort klar, wo ein wichtiges Ereigniß
stattgefunden. Hat das tapfere Regiment den Feind aus Langenhof, oder
aus Stresetitz herausgeschlagen? - Niemand im Regiment weiß es: erst kam
ein Hohlweg, dann ein weißes Gehöft, dann der Angriff, dann kurze Rast,
dann weiteres Vorrücken. Sucht einige Wochen später nach: es sind mehrere
Hohlwege und viele weiße Gehöfte; vielleicht standen Weidenbäume in der
Nähe: sie sind am Abend jenes Tages von andern Truppen beim Bivouak
gefällt. — Dazu kommt, daß Auge und Ohr in diesen Stunden der höchsten
Spannung eigenthümlichen Störungen unterworfen sind und daß auch sehr
wahrhafte und feste Männer der Gefahr unterliegen, in das, was sie gesehen
und erlebt haben, auffallende Täuschungen der Sinne und der Phantasie
hineinzutragen. Fast Jedem begegnet, daß einzelne Wahrnehmungen ihm
übermächtig werden und die gleichmäßige Auffassung des Gesichtsbildes
beirren. Der Eine sah den Commandeur fallen, der Andere, welcher dicht
daneben stand, ihn fortreiten; der eine Rapport spricht von Wolken feind¬
licher Cavalerie in Schußweite, der andere leugnet vor demselben Ereigniß
jeden Pferdefuß im Gesichtsfelde. Während der Schlacht bei Königgrätz
wundert sich ein tüchtiger Commandeur, daß es so still rings um seine
Truppe ist, gar kein Geschützfeuer zu hören: er reitet wenige Schritte und
sieht dicht neben sich 48 Kanonen in eifriger Arbeit. — Endlich aber — und
dies ist die häufigste Schwierigkeit — wird der Mithandelnde durch die
stärksten Motive des Ehrgeizes und der Selbstliebe getrieben, seinen Antheil
an der Action zu überschätzen, Mißerfolge zu verdecken, errungene Vortheile
als groß und bedeutsam darzustellen, er färbt zuweilen mit Absicht; aber auch
der ehrlichste Bericht erhält leicht einen Zusatz, der erst chemisch auszuscheiden
ist, bevor der Bericht brauchbar wird.

Ein officielles Werk, welches aus solchem massenhaften Detail zusammen¬
gesetzt werden muß, fordert viel Menschenkenntniß, Tact und Scharfsinn des
Schreibenden. Es wird dennoch darauf verzichten müssen, eine genaue und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/10>, abgerufen am 28.09.2024.