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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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umso erfreulicher, wahrzunehmen, daß die Nachlebenden ihre Pflicht, gerecht zu sein,
an seinen Manen zu erfüllen beginnen. Und dies ist neuerdings gerade in derjeni¬
gen Richtung seiner Geistesthätigkeit geschehen, die wie diesen Blättern, so dem grö¬
ßeren Kreise der Gebildeten unserer Nation die besten Anknüpfungspunkte darbietet.
In Lotze's jüngst erschienener trefflicher "Geschichte der Aesthetik in Deutschland"
finden wir die erste eingehende und vollständige Würdigung der Verdienste Weiße's
um die theoretischen Grundlagen dieser Wissenschaft, der in neuer Zeit das Populäre
Interesse sich in wachsendem Maße zuwendet. Und es fügt sich schön, daß sast gleich¬
zeitig in der oben genannten ersten Publication aus Weißes Nachlasse, den "Kleinen
Schriften zur Aesthetik", die wir der pietätvollen Mühwaltung seines treuesten
Anhängers Prof. R. Seydel's in Leipzig verdanken, eine Sammlung populärer Ab¬
handlungen geboten wird, welche geeignet sind, das Verständniß der reinwissenschaft¬
lichen Arbeit des Verfassers dem deutschen Publikum praktisch zu erläutern und nahe
zu bringen. Diese Schriften, von denen ein Theil bereits früher in Zeitschriften
verstreut abgedruckt war, geben zunächst Rechenschaft über Weiße's Stellung zu fast
allen Charktergestalten der poetischen Literatur neuerer Zeit in Deutschland. Schil¬
ler, vorzugsweise aber Göthe, dann Rahel und Bettina, Jean Paul, Rückert, Jere-
mias Gotthelf fesseln ihn, nicht um blos historischer Würdigung willen, sondern zur
Auseinandersetzung mit den höchsten Problemen dichterischen Schaffens überhaupt.
Und daran reihen sich außer dem vereinzelten, von philologischer Seite schon bei
seinem ersten Erscheinen mit größter Auszeichnung begrüßten Aufsatze über Homer
einige in Redeform niedergeschriebene Abhandlungen prinzipiellerer Art, unter denen
namentlich die über das Verhältniß des protestantischen Christenthums zur bildenden
Kunst hervorragt. Such wer mit den Urtheilen und Sympathien des Verfassers
nicht allenthalben übereinstimmt, kann nur mit Antheil und Wärme eine solche Fülle
eigenthümlicher Gemüthserlebnisse und umfassender JSeenverknüpfungen verfolgen,
wie diese Schriften sie enthalten.

Die zweite kürzlich erschienene Veröffentlichung charakterisirt den Forscher auf
kritisch-theologischen Gebiet, auf dem er in früheren Jahren bereits in mannigfal¬
tiger Form hervorgetreten war. Auf Grund derselben kritischen Voraussetzungen,
Von welchen etwa die Sichtung des homerischen Textes oder der Nibelungen aus-
geht, wird hier der Stil, die innerlich wirkende plastische Kraft der Persönlichkeit
zum Kriterium sür Echtheit und Unechtheit der Ueberlieferung gemacht und eine
Redaction der paulinischen Briefe gegeben, die nach der Empfindung des Verfassers
ein in sich übereinstimmendes Charakterbild des Apostels bieten soll, ein Wagniß,
das der geistlichen Verketzerung gewiß nicht entgehen kann, aber schon darum die
Aufmerksamkeit aller Mitforschenden in hohem Grade verdient. Wie dieser kühne
Wurf als Vermächtniß eines die Wahrheit rückhaltlos mit eignem Auge suchenden
Geistes ehrwürdig ist, so wird in jenen ästhetischen Aufsätzen allenthalben Ernst
gemacht mit der Einheit des Schönen und des Sittlichreligiösen, die den Ausgangs¬
und Zielpunkt der Ueberzeugungen des seltenen Mannes bildete, dem zu großen Ge¬
M. I. danken auch das reinste Herz gegeben war.




Verantwortliche Redacteure: Gustav Freytag u. Julius Eckarvt.
Verlag von F. L. Herbig. -- Druck von Hüthel Segler in Leipzig.

umso erfreulicher, wahrzunehmen, daß die Nachlebenden ihre Pflicht, gerecht zu sein,
an seinen Manen zu erfüllen beginnen. Und dies ist neuerdings gerade in derjeni¬
gen Richtung seiner Geistesthätigkeit geschehen, die wie diesen Blättern, so dem grö¬
ßeren Kreise der Gebildeten unserer Nation die besten Anknüpfungspunkte darbietet.
In Lotze's jüngst erschienener trefflicher „Geschichte der Aesthetik in Deutschland"
finden wir die erste eingehende und vollständige Würdigung der Verdienste Weiße's
um die theoretischen Grundlagen dieser Wissenschaft, der in neuer Zeit das Populäre
Interesse sich in wachsendem Maße zuwendet. Und es fügt sich schön, daß sast gleich¬
zeitig in der oben genannten ersten Publication aus Weißes Nachlasse, den „Kleinen
Schriften zur Aesthetik", die wir der pietätvollen Mühwaltung seines treuesten
Anhängers Prof. R. Seydel's in Leipzig verdanken, eine Sammlung populärer Ab¬
handlungen geboten wird, welche geeignet sind, das Verständniß der reinwissenschaft¬
lichen Arbeit des Verfassers dem deutschen Publikum praktisch zu erläutern und nahe
zu bringen. Diese Schriften, von denen ein Theil bereits früher in Zeitschriften
verstreut abgedruckt war, geben zunächst Rechenschaft über Weiße's Stellung zu fast
allen Charktergestalten der poetischen Literatur neuerer Zeit in Deutschland. Schil¬
ler, vorzugsweise aber Göthe, dann Rahel und Bettina, Jean Paul, Rückert, Jere-
mias Gotthelf fesseln ihn, nicht um blos historischer Würdigung willen, sondern zur
Auseinandersetzung mit den höchsten Problemen dichterischen Schaffens überhaupt.
Und daran reihen sich außer dem vereinzelten, von philologischer Seite schon bei
seinem ersten Erscheinen mit größter Auszeichnung begrüßten Aufsatze über Homer
einige in Redeform niedergeschriebene Abhandlungen prinzipiellerer Art, unter denen
namentlich die über das Verhältniß des protestantischen Christenthums zur bildenden
Kunst hervorragt. Such wer mit den Urtheilen und Sympathien des Verfassers
nicht allenthalben übereinstimmt, kann nur mit Antheil und Wärme eine solche Fülle
eigenthümlicher Gemüthserlebnisse und umfassender JSeenverknüpfungen verfolgen,
wie diese Schriften sie enthalten.

Die zweite kürzlich erschienene Veröffentlichung charakterisirt den Forscher auf
kritisch-theologischen Gebiet, auf dem er in früheren Jahren bereits in mannigfal¬
tiger Form hervorgetreten war. Auf Grund derselben kritischen Voraussetzungen,
Von welchen etwa die Sichtung des homerischen Textes oder der Nibelungen aus-
geht, wird hier der Stil, die innerlich wirkende plastische Kraft der Persönlichkeit
zum Kriterium sür Echtheit und Unechtheit der Ueberlieferung gemacht und eine
Redaction der paulinischen Briefe gegeben, die nach der Empfindung des Verfassers
ein in sich übereinstimmendes Charakterbild des Apostels bieten soll, ein Wagniß,
das der geistlichen Verketzerung gewiß nicht entgehen kann, aber schon darum die
Aufmerksamkeit aller Mitforschenden in hohem Grade verdient. Wie dieser kühne
Wurf als Vermächtniß eines die Wahrheit rückhaltlos mit eignem Auge suchenden
Geistes ehrwürdig ist, so wird in jenen ästhetischen Aufsätzen allenthalben Ernst
gemacht mit der Einheit des Schönen und des Sittlichreligiösen, die den Ausgangs¬
und Zielpunkt der Ueberzeugungen des seltenen Mannes bildete, dem zu großen Ge¬
M. I. danken auch das reinste Herz gegeben war.




Verantwortliche Redacteure: Gustav Freytag u. Julius Eckarvt.
Verlag von F. L. Herbig. — Druck von Hüthel Segler in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/484>, abgerufen am 15.01.2025.