Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.welche ihre politische Unverdächtigkeit und Loyalität nachweisen konnten. Während in Groß und Kleinrußland der Unterschied zwischen selbstän¬ *) Der zur Dorfmark gehörige Grund und Boden wird periodisch in so viel Parcellen ge- theilt, als einzelne Familien in der Gemeinde sind, und unter diese verlooft. Diese Neuvcr- theilungen kehren gewöhnlich alle neun bis zwölf Jahre wieder. Vergl, Haxthausen, die rufst, sche Landgemeinde. S7*
welche ihre politische Unverdächtigkeit und Loyalität nachweisen konnten. Während in Groß und Kleinrußland der Unterschied zwischen selbstän¬ *) Der zur Dorfmark gehörige Grund und Boden wird periodisch in so viel Parcellen ge- theilt, als einzelne Familien in der Gemeinde sind, und unter diese verlooft. Diese Neuvcr- theilungen kehren gewöhnlich alle neun bis zwölf Jahre wieder. Vergl, Haxthausen, die rufst, sche Landgemeinde. S7*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117987"/> <p xml:id="ID_1442" prev="#ID_1441"> welche ihre politische Unverdächtigkeit und Loyalität nachweisen konnten.<lb/> Klagen waren vergeblich, da die Thätigkeit der ordinären Gerichte durch<lb/> den Aufstand ins Stocken gerathen war und der Adel jeder Art von Ver¬<lb/> tretung entbehrte: Adelsmarschälle wurden seit dem Aufstande nicht mehr<lb/> gewählt, sondern vom Generalgouvemeur aus der Zahl der wenigen im<lb/> Lande ansässigen Russen ernannt. Während die Gutsbesitzer unerschwingliche<lb/> Kontributionen aufbringen mußten (deren Betrag sich darnach richtete, ob sie<lb/> der polnischen, deutschen oder russischen Nationalität angehörten), bildeten die<lb/> Bauern Milizen, welche mit Waffen in der Hand über das Wohlverhalten<lb/> ihrer ehemaligen Herren wachten. Gleich den Edelleuten galten auch die katho¬<lb/> lischen Priester für verdächtig, — jede Autorität für die bis dahin an strengen<lb/> Gehorsam gewöhnten Bauern hörte auf und insbesondere diejenigen unter<lb/> ihnen, welche zur griechischen Kirche übertraten, standen über jedem Gesetz<lb/> und konnten sich im Namen des Patriotismus alles erlauben. Bedürfnißlos<lb/> und mit einem Schlage von den Verpflichtungen, die bisher auf ihnen ge-<lb/> lastet hatten, entbunden, genossen sie die Freiheit in vollen Zügen, indem sie<lb/> von drei Tagen kaum einen arbeiteten und die übrige Zeit in der Brannt¬<lb/> weinschenke zubrachten. Dazu kam, daß sich auch innerhalb ihrer Kreise<lb/> wichtige Veränderungen vollziehen sollten. Um auf diese näher einzugehen,<lb/> müssen wir uns mit der agrarischen Organisation des Landes in Kürze<lb/> bekannt machen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1443" next="#ID_1444"> Während in Groß und Kleinrußland der Unterschied zwischen selbstän¬<lb/> digen bäuerlichen Wirthschaftsunternehmern und Knechten ebenso unbekannt<lb/> ist, wie das individuelle Eigenthum am Grund und Boden*), bestehen die<lb/> Rittergüter in Litthauen und Samogitien aus den direkt von den Herren<lb/> bewirthschaften Hofsländereien und großen geschlossenen Bauerhöfen, welche<lb/> von den Bauern, die sie gegen Geld oder Arbeitspacht übernommen hatten,<lb/> mit Hilfe gemietheter Knechte bewirthschaftet wurden. In ihrem Eifer für<lb/> vollständige Nussification des Landes wünschte die russische Demokratie dieses<lb/> Verhältniß zu ändern, die geschlossenen Höfe zu sprengen, den Unterschied<lb/> zwischen Bauerwirthen und Bauerknechten aufzuheben und das Institut des<lb/> ungetheilten Communalbesitzes einzuführen. Hierzu konnte die Negierung sich<lb/> nicht entschließen, sie ließ aber geschehen, daß ein Theil der Hofsfelder<lb/> unter die Knechte vertheilt wurde, welche dieselben bisher bearbeitet hatten,<lb/> und daß anderen Knechten gewisse Grundstücke, die früher zu geschlossenen<lb/> Höfen gehört hatten, zugewiesen wurden. Außerdem wurden die Bauerwirthe</p><lb/> <note xml:id="FID_48" place="foot"> *) Der zur Dorfmark gehörige Grund und Boden wird periodisch in so viel Parcellen ge-<lb/> theilt, als einzelne Familien in der Gemeinde sind, und unter diese verlooft. Diese Neuvcr-<lb/> theilungen kehren gewöhnlich alle neun bis zwölf Jahre wieder. Vergl, Haxthausen, die rufst,<lb/> sche Landgemeinde.</note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> S7*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0455]
welche ihre politische Unverdächtigkeit und Loyalität nachweisen konnten.
Klagen waren vergeblich, da die Thätigkeit der ordinären Gerichte durch
den Aufstand ins Stocken gerathen war und der Adel jeder Art von Ver¬
tretung entbehrte: Adelsmarschälle wurden seit dem Aufstande nicht mehr
gewählt, sondern vom Generalgouvemeur aus der Zahl der wenigen im
Lande ansässigen Russen ernannt. Während die Gutsbesitzer unerschwingliche
Kontributionen aufbringen mußten (deren Betrag sich darnach richtete, ob sie
der polnischen, deutschen oder russischen Nationalität angehörten), bildeten die
Bauern Milizen, welche mit Waffen in der Hand über das Wohlverhalten
ihrer ehemaligen Herren wachten. Gleich den Edelleuten galten auch die katho¬
lischen Priester für verdächtig, — jede Autorität für die bis dahin an strengen
Gehorsam gewöhnten Bauern hörte auf und insbesondere diejenigen unter
ihnen, welche zur griechischen Kirche übertraten, standen über jedem Gesetz
und konnten sich im Namen des Patriotismus alles erlauben. Bedürfnißlos
und mit einem Schlage von den Verpflichtungen, die bisher auf ihnen ge-
lastet hatten, entbunden, genossen sie die Freiheit in vollen Zügen, indem sie
von drei Tagen kaum einen arbeiteten und die übrige Zeit in der Brannt¬
weinschenke zubrachten. Dazu kam, daß sich auch innerhalb ihrer Kreise
wichtige Veränderungen vollziehen sollten. Um auf diese näher einzugehen,
müssen wir uns mit der agrarischen Organisation des Landes in Kürze
bekannt machen.
Während in Groß und Kleinrußland der Unterschied zwischen selbstän¬
digen bäuerlichen Wirthschaftsunternehmern und Knechten ebenso unbekannt
ist, wie das individuelle Eigenthum am Grund und Boden*), bestehen die
Rittergüter in Litthauen und Samogitien aus den direkt von den Herren
bewirthschaften Hofsländereien und großen geschlossenen Bauerhöfen, welche
von den Bauern, die sie gegen Geld oder Arbeitspacht übernommen hatten,
mit Hilfe gemietheter Knechte bewirthschaftet wurden. In ihrem Eifer für
vollständige Nussification des Landes wünschte die russische Demokratie dieses
Verhältniß zu ändern, die geschlossenen Höfe zu sprengen, den Unterschied
zwischen Bauerwirthen und Bauerknechten aufzuheben und das Institut des
ungetheilten Communalbesitzes einzuführen. Hierzu konnte die Negierung sich
nicht entschließen, sie ließ aber geschehen, daß ein Theil der Hofsfelder
unter die Knechte vertheilt wurde, welche dieselben bisher bearbeitet hatten,
und daß anderen Knechten gewisse Grundstücke, die früher zu geschlossenen
Höfen gehört hatten, zugewiesen wurden. Außerdem wurden die Bauerwirthe
*) Der zur Dorfmark gehörige Grund und Boden wird periodisch in so viel Parcellen ge-
theilt, als einzelne Familien in der Gemeinde sind, und unter diese verlooft. Diese Neuvcr-
theilungen kehren gewöhnlich alle neun bis zwölf Jahre wieder. Vergl, Haxthausen, die rufst,
sche Landgemeinde.
S7*
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |