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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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unter dem Schutze Kaiser Karl VI errichteten "Cäcilien-Congregation", an
deren Spitze der Vorsteher der kaiserlichen Musik, Prinz Ludwig Pius von
Savoyen stand. Bald nach Gründung der Tonkünstler-Societät löste sich
die Cäcilien-Congregation auf und das vorhandene Vermögen (7823 si.) ging
mit kaiserlicher Bewilligung an die neue Gesellschnft über, die jedoch auch
jetzt noch nur die Zinsennutznießung davon zu beanspruchen hat. Das erste,
am 29. März 1773 aufgeführte Oratorium war Gaßmann's "Lötulia lide-
rata". In den neunziger Jahren war die Societät ziemlich herabgekommen;
Haydn beklagte sich wiederholt über die Lauigkeit. mit der die Mitglieder bei
den Aufführungen ihren Pflichten nachkamen. Die "Schöpfung" und kurz da¬
rauf die "Jahreszeiten" versetzten die Vereinskasse in einen nie gehofften blü¬
henden Zustand. Wie vielen Hunderten von Wittwen und Waisen ver¬
schafften die beiden Werke Haydn's nur allein durch diesen Verein, Brod!
Die Concerte wurden in den ersten zehn Jahren der Societät im Kärnthner-
thor-Theater abgehalten, siedelten dann aber in das für musikalische Zwecke
so ungünstig als mögliche Burgtheater über. In den Jahren 1807--10
suchte man der Acustik durch eine eigens gebaute "Rcsonanzkuppel" nachzu¬
helfen und zwar nicht ohne Erfolg. Die Statuten der Societät, im Jahre
1804 erneuert, wurden 1862 abermals geregelt; zugleich aber legte sich die¬
selbe aus Dankbarkeit gegen ihren gewissermaßen zweiten Gründer den Na¬
men "Haydn" bei. Und wie vor 70 Jahren, so lieferten auch diesen
Winter die Aufführungen der Schöpfung und Jahreszeiten (zu Weihnachten
und in der Charwoche an je zwei Abenden) der Vereinskasse eine ergiebige
Summe, das gedrängt volle Haus folgte den einzelnen Nummern der nun
schon so oft gehörten Werke mit wahrhaft rührender Pietät.

Und nun noch einen Wunsch! -- Wien veranstaltete vor nicht zu langer
Zeit, als die Stadt noch keinen Singverein, keine Singacademie, noch viel
weniger auch nur den bescheidensten Männergesangverein hatte, jährlich ein
großes Musikfest, an dem ein großes, auf Massen berechnetes Oratorium
über tausend Mitwirkende vereinigte. Sollten ähnliche Aufführungen, wie
sie seit Jahren am Rhein stattfinden und an denen die einzelnen nun be¬
stehenden Vereine Wiens Gelegenheit hätten, ihre Gesammtkraft zu erpro¬
ben, für immer verstummt sein? Wären solche außergewöhnlichen Feste nicht
gerade geboten in einer Zeit, in der es doppelt,.Nord thut, sich, wenn auch
nur auf Augenblicke, im Genusse erhabener Kunsteindrücke über die nergelnden
Sorgen des Tages zu erheben? Das Local, eins der schönsten und acustische-
sten der Welt, steht noch da; die längst vorhandenen Musikalien liegen unbe¬
nutzt und -- was mehr als alles dieses -- ein Dirigent, an dessen energischer
Führung wohl Niemand zweifeln wird, darf nicht erst gesucht werden;
fürwahr, wo fände sich würdigere Gelegenheit, die Macht des Gesanges


unter dem Schutze Kaiser Karl VI errichteten „Cäcilien-Congregation", an
deren Spitze der Vorsteher der kaiserlichen Musik, Prinz Ludwig Pius von
Savoyen stand. Bald nach Gründung der Tonkünstler-Societät löste sich
die Cäcilien-Congregation auf und das vorhandene Vermögen (7823 si.) ging
mit kaiserlicher Bewilligung an die neue Gesellschnft über, die jedoch auch
jetzt noch nur die Zinsennutznießung davon zu beanspruchen hat. Das erste,
am 29. März 1773 aufgeführte Oratorium war Gaßmann's „Lötulia lide-
rata". In den neunziger Jahren war die Societät ziemlich herabgekommen;
Haydn beklagte sich wiederholt über die Lauigkeit. mit der die Mitglieder bei
den Aufführungen ihren Pflichten nachkamen. Die „Schöpfung" und kurz da¬
rauf die „Jahreszeiten" versetzten die Vereinskasse in einen nie gehofften blü¬
henden Zustand. Wie vielen Hunderten von Wittwen und Waisen ver¬
schafften die beiden Werke Haydn's nur allein durch diesen Verein, Brod!
Die Concerte wurden in den ersten zehn Jahren der Societät im Kärnthner-
thor-Theater abgehalten, siedelten dann aber in das für musikalische Zwecke
so ungünstig als mögliche Burgtheater über. In den Jahren 1807—10
suchte man der Acustik durch eine eigens gebaute „Rcsonanzkuppel" nachzu¬
helfen und zwar nicht ohne Erfolg. Die Statuten der Societät, im Jahre
1804 erneuert, wurden 1862 abermals geregelt; zugleich aber legte sich die¬
selbe aus Dankbarkeit gegen ihren gewissermaßen zweiten Gründer den Na¬
men „Haydn" bei. Und wie vor 70 Jahren, so lieferten auch diesen
Winter die Aufführungen der Schöpfung und Jahreszeiten (zu Weihnachten
und in der Charwoche an je zwei Abenden) der Vereinskasse eine ergiebige
Summe, das gedrängt volle Haus folgte den einzelnen Nummern der nun
schon so oft gehörten Werke mit wahrhaft rührender Pietät.

Und nun noch einen Wunsch! — Wien veranstaltete vor nicht zu langer
Zeit, als die Stadt noch keinen Singverein, keine Singacademie, noch viel
weniger auch nur den bescheidensten Männergesangverein hatte, jährlich ein
großes Musikfest, an dem ein großes, auf Massen berechnetes Oratorium
über tausend Mitwirkende vereinigte. Sollten ähnliche Aufführungen, wie
sie seit Jahren am Rhein stattfinden und an denen die einzelnen nun be¬
stehenden Vereine Wiens Gelegenheit hätten, ihre Gesammtkraft zu erpro¬
ben, für immer verstummt sein? Wären solche außergewöhnlichen Feste nicht
gerade geboten in einer Zeit, in der es doppelt,.Nord thut, sich, wenn auch
nur auf Augenblicke, im Genusse erhabener Kunsteindrücke über die nergelnden
Sorgen des Tages zu erheben? Das Local, eins der schönsten und acustische-
sten der Welt, steht noch da; die längst vorhandenen Musikalien liegen unbe¬
nutzt und — was mehr als alles dieses — ein Dirigent, an dessen energischer
Führung wohl Niemand zweifeln wird, darf nicht erst gesucht werden;
fürwahr, wo fände sich würdigere Gelegenheit, die Macht des Gesanges


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[0344] unter dem Schutze Kaiser Karl VI errichteten „Cäcilien-Congregation", an deren Spitze der Vorsteher der kaiserlichen Musik, Prinz Ludwig Pius von Savoyen stand. Bald nach Gründung der Tonkünstler-Societät löste sich die Cäcilien-Congregation auf und das vorhandene Vermögen (7823 si.) ging mit kaiserlicher Bewilligung an die neue Gesellschnft über, die jedoch auch jetzt noch nur die Zinsennutznießung davon zu beanspruchen hat. Das erste, am 29. März 1773 aufgeführte Oratorium war Gaßmann's „Lötulia lide- rata". In den neunziger Jahren war die Societät ziemlich herabgekommen; Haydn beklagte sich wiederholt über die Lauigkeit. mit der die Mitglieder bei den Aufführungen ihren Pflichten nachkamen. Die „Schöpfung" und kurz da¬ rauf die „Jahreszeiten" versetzten die Vereinskasse in einen nie gehofften blü¬ henden Zustand. Wie vielen Hunderten von Wittwen und Waisen ver¬ schafften die beiden Werke Haydn's nur allein durch diesen Verein, Brod! Die Concerte wurden in den ersten zehn Jahren der Societät im Kärnthner- thor-Theater abgehalten, siedelten dann aber in das für musikalische Zwecke so ungünstig als mögliche Burgtheater über. In den Jahren 1807—10 suchte man der Acustik durch eine eigens gebaute „Rcsonanzkuppel" nachzu¬ helfen und zwar nicht ohne Erfolg. Die Statuten der Societät, im Jahre 1804 erneuert, wurden 1862 abermals geregelt; zugleich aber legte sich die¬ selbe aus Dankbarkeit gegen ihren gewissermaßen zweiten Gründer den Na¬ men „Haydn" bei. Und wie vor 70 Jahren, so lieferten auch diesen Winter die Aufführungen der Schöpfung und Jahreszeiten (zu Weihnachten und in der Charwoche an je zwei Abenden) der Vereinskasse eine ergiebige Summe, das gedrängt volle Haus folgte den einzelnen Nummern der nun schon so oft gehörten Werke mit wahrhaft rührender Pietät. Und nun noch einen Wunsch! — Wien veranstaltete vor nicht zu langer Zeit, als die Stadt noch keinen Singverein, keine Singacademie, noch viel weniger auch nur den bescheidensten Männergesangverein hatte, jährlich ein großes Musikfest, an dem ein großes, auf Massen berechnetes Oratorium über tausend Mitwirkende vereinigte. Sollten ähnliche Aufführungen, wie sie seit Jahren am Rhein stattfinden und an denen die einzelnen nun be¬ stehenden Vereine Wiens Gelegenheit hätten, ihre Gesammtkraft zu erpro¬ ben, für immer verstummt sein? Wären solche außergewöhnlichen Feste nicht gerade geboten in einer Zeit, in der es doppelt,.Nord thut, sich, wenn auch nur auf Augenblicke, im Genusse erhabener Kunsteindrücke über die nergelnden Sorgen des Tages zu erheben? Das Local, eins der schönsten und acustische- sten der Welt, steht noch da; die längst vorhandenen Musikalien liegen unbe¬ nutzt und — was mehr als alles dieses — ein Dirigent, an dessen energischer Führung wohl Niemand zweifeln wird, darf nicht erst gesucht werden; fürwahr, wo fände sich würdigere Gelegenheit, die Macht des Gesanges

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/344>, abgerufen am 15.01.2025.