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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Regierung, die sich grundsätzlich jeder Einmischung in ihre nationalen und
kirchlichen Angelegenheiten enthält und ihnen darin volle Freiheit läßt, mit
einer andern zu vertauschen, deren Duldsamkeit sich in Polen, in der Krim
und Georgien so glänzend bewährt hat?

Sollte Herr L. hieran noch nicht genug haben und nach weitern Nach¬
weisungen über den wahren Stand der Dinge im Orient Verlangen tragen,
so sind wir bereit, ihm solche in noch weit größerer Ausführlichkeit zu geben "

Aus Ur. 9. "Die hohe Pforte hat eine ziemliche Menge von Reformen
angekündigt und in einem Bericht an den Sultan noch viele rmdere ver¬
heißen. Betrachten wir nun einige jener Reformen etwas näher!

Vordem nannte man den Complex mehrerer Städte mit ihrem Stadt¬
gebiet EjKlet. Jetzt soll ein solcher Bezirk -- so will es die hohe Pforte
-- Wilajet heißen. Erste Reform.

Vordem führten gewisse Provinzialstatthalter den Titel KaimmakKm,
von jetzt an sollen sie Mutesarrif genannt werden. Zweite Reform.

Vordem bezeichnete man gewisse hohe Finanzbeamte mit dem Namen
Defterds-r; für künftighin soll man sie Muhäsebedschi titultren. Dritte
Reform.

Vor einigen Jahren fetzte das Finanzministerium eine bedeutende Anzahl
verzinslicher Schatzscheine in Umlauf, mit dem Versprechen monatlicher Zinsen¬
zahlung. Die Monate sind seitdem, wie immer, regelmäßig auf einander ge¬
folgt, aber die regelmäßige Zinsenzahlung hat sich noch nicht einstellen wollen.
Die Abnehmer der Schatzscheine belagern vergeblich die Thüre der Staats¬
kasse: diese bleibt -- natürlich nur für sie -- nach wie vor regelmäßig ver¬
schlossen. Jetzt endlich verspricht das Finanzministerium die rückständigen
Zinsen zu bezahlen, aber in kleinen Raten und in noch zu bestimmenden Ter¬
minen. . . . 'Was das heißt, weiß man aus Erfahrung. Und so mehrere
Reformen desselben Schlages.

Man sieht aus diesen Proben: die Regierung begnügt sich damit, Na¬
men und Titel zu ändern und neue Versprechungen zu geben, was nichts als
Betrügerei ist. Sie hat durch dieses System allen Osmanen, die keine neuen
Versprechungen, sondern die Erfüllung der alten verlangen, einen tiefen Wi¬
derwillen gegen sich eingeflößt.

Die Türkei bedarf ernster, tiefgreifender Reformen; aber die gegenwär¬
tige Negierung kennt entweder die Bedürfnisse des Volkes nicht, oder sie
kennt dieselben, stellt sich aber unwissend, um nicht genöthigt zu sein, jenen
Bedürfnissen abzuhelfen.

Es handelt sich also jetzt um die Erfüllung der alten Versprechungen,
und die Frage ist: wer soll diese erfüllen: eine neue constitutionelle, oder die
jetzige unconstitutionelle Regierung?


Regierung, die sich grundsätzlich jeder Einmischung in ihre nationalen und
kirchlichen Angelegenheiten enthält und ihnen darin volle Freiheit läßt, mit
einer andern zu vertauschen, deren Duldsamkeit sich in Polen, in der Krim
und Georgien so glänzend bewährt hat?

Sollte Herr L. hieran noch nicht genug haben und nach weitern Nach¬
weisungen über den wahren Stand der Dinge im Orient Verlangen tragen,
so sind wir bereit, ihm solche in noch weit größerer Ausführlichkeit zu geben "

Aus Ur. 9. „Die hohe Pforte hat eine ziemliche Menge von Reformen
angekündigt und in einem Bericht an den Sultan noch viele rmdere ver¬
heißen. Betrachten wir nun einige jener Reformen etwas näher!

Vordem nannte man den Complex mehrerer Städte mit ihrem Stadt¬
gebiet EjKlet. Jetzt soll ein solcher Bezirk — so will es die hohe Pforte
— Wilajet heißen. Erste Reform.

Vordem führten gewisse Provinzialstatthalter den Titel KaimmakKm,
von jetzt an sollen sie Mutesarrif genannt werden. Zweite Reform.

Vordem bezeichnete man gewisse hohe Finanzbeamte mit dem Namen
Defterds-r; für künftighin soll man sie Muhäsebedschi titultren. Dritte
Reform.

Vor einigen Jahren fetzte das Finanzministerium eine bedeutende Anzahl
verzinslicher Schatzscheine in Umlauf, mit dem Versprechen monatlicher Zinsen¬
zahlung. Die Monate sind seitdem, wie immer, regelmäßig auf einander ge¬
folgt, aber die regelmäßige Zinsenzahlung hat sich noch nicht einstellen wollen.
Die Abnehmer der Schatzscheine belagern vergeblich die Thüre der Staats¬
kasse: diese bleibt — natürlich nur für sie — nach wie vor regelmäßig ver¬
schlossen. Jetzt endlich verspricht das Finanzministerium die rückständigen
Zinsen zu bezahlen, aber in kleinen Raten und in noch zu bestimmenden Ter¬
minen. . . . 'Was das heißt, weiß man aus Erfahrung. Und so mehrere
Reformen desselben Schlages.

Man sieht aus diesen Proben: die Regierung begnügt sich damit, Na¬
men und Titel zu ändern und neue Versprechungen zu geben, was nichts als
Betrügerei ist. Sie hat durch dieses System allen Osmanen, die keine neuen
Versprechungen, sondern die Erfüllung der alten verlangen, einen tiefen Wi¬
derwillen gegen sich eingeflößt.

Die Türkei bedarf ernster, tiefgreifender Reformen; aber die gegenwär¬
tige Negierung kennt entweder die Bedürfnisse des Volkes nicht, oder sie
kennt dieselben, stellt sich aber unwissend, um nicht genöthigt zu sein, jenen
Bedürfnissen abzuhelfen.

Es handelt sich also jetzt um die Erfüllung der alten Versprechungen,
und die Frage ist: wer soll diese erfüllen: eine neue constitutionelle, oder die
jetzige unconstitutionelle Regierung?


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[0306] Regierung, die sich grundsätzlich jeder Einmischung in ihre nationalen und kirchlichen Angelegenheiten enthält und ihnen darin volle Freiheit läßt, mit einer andern zu vertauschen, deren Duldsamkeit sich in Polen, in der Krim und Georgien so glänzend bewährt hat? Sollte Herr L. hieran noch nicht genug haben und nach weitern Nach¬ weisungen über den wahren Stand der Dinge im Orient Verlangen tragen, so sind wir bereit, ihm solche in noch weit größerer Ausführlichkeit zu geben " Aus Ur. 9. „Die hohe Pforte hat eine ziemliche Menge von Reformen angekündigt und in einem Bericht an den Sultan noch viele rmdere ver¬ heißen. Betrachten wir nun einige jener Reformen etwas näher! Vordem nannte man den Complex mehrerer Städte mit ihrem Stadt¬ gebiet EjKlet. Jetzt soll ein solcher Bezirk — so will es die hohe Pforte — Wilajet heißen. Erste Reform. Vordem führten gewisse Provinzialstatthalter den Titel KaimmakKm, von jetzt an sollen sie Mutesarrif genannt werden. Zweite Reform. Vordem bezeichnete man gewisse hohe Finanzbeamte mit dem Namen Defterds-r; für künftighin soll man sie Muhäsebedschi titultren. Dritte Reform. Vor einigen Jahren fetzte das Finanzministerium eine bedeutende Anzahl verzinslicher Schatzscheine in Umlauf, mit dem Versprechen monatlicher Zinsen¬ zahlung. Die Monate sind seitdem, wie immer, regelmäßig auf einander ge¬ folgt, aber die regelmäßige Zinsenzahlung hat sich noch nicht einstellen wollen. Die Abnehmer der Schatzscheine belagern vergeblich die Thüre der Staats¬ kasse: diese bleibt — natürlich nur für sie — nach wie vor regelmäßig ver¬ schlossen. Jetzt endlich verspricht das Finanzministerium die rückständigen Zinsen zu bezahlen, aber in kleinen Raten und in noch zu bestimmenden Ter¬ minen. . . . 'Was das heißt, weiß man aus Erfahrung. Und so mehrere Reformen desselben Schlages. Man sieht aus diesen Proben: die Regierung begnügt sich damit, Na¬ men und Titel zu ändern und neue Versprechungen zu geben, was nichts als Betrügerei ist. Sie hat durch dieses System allen Osmanen, die keine neuen Versprechungen, sondern die Erfüllung der alten verlangen, einen tiefen Wi¬ derwillen gegen sich eingeflößt. Die Türkei bedarf ernster, tiefgreifender Reformen; aber die gegenwär¬ tige Negierung kennt entweder die Bedürfnisse des Volkes nicht, oder sie kennt dieselben, stellt sich aber unwissend, um nicht genöthigt zu sein, jenen Bedürfnissen abzuhelfen. Es handelt sich also jetzt um die Erfüllung der alten Versprechungen, und die Frage ist: wer soll diese erfüllen: eine neue constitutionelle, oder die jetzige unconstitutionelle Regierung?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/306>, abgerufen am 15.01.2025.