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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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metral verschiedene Resultate gezogen werden. Voraussetzungsfrei ist Gervinus
ebenso wenig wie Herr v. Prokesch; dem einen kam es darauf an, Oestreichs
orientalische Politik als Theil eines irrigen, auf unsittliche und wahrheits¬
feindliche Prämissen gestützten Gesammtsystems bloszulegen und demgemäß zu
verurtheilen, der andere wollte den Beweis führen, daß die herrschenden
Meinungen über Metternichs Staatskunst wesentlich aus einer mangelhaften
Kenntniß des einschläglichen Materials herrührten.

Ohne an des Jnternuntius "Uninteresstrtheit an den Resultaten" zu
glauben, wird der unbefangene Leser sich dem Eindrucke aber nicht entziehen
können, daß Prokesch in vielen Einzelheiten gründlicher unterrichtet ist, wie
sein Vorgänger, und daß er als Praktiker den Vorzug größerer Nüchternheit
des Urtheils besitzt.

Es zeigt sich das namentlich in Bezug auf die Auffassung der russischen
Politik und ihres obersten Leiters, des Kaisers Alexander, für dessen Beurthei¬
lung Gervinus einen fertigen Rahmen mitbringt, während Prokesch einfach
die Thatsachen reden läßt. Gerade in der Vorgeschichte des Aufstandes von
1821 treten mannigfache Differenzen des Details hervor. Während Gervinus
eine bloße Zusammensetzung zwischen der Gesellschaft der Philomusen und der
Hetärie annimmt, führt Prokesch den Nachweis, Skuffas und dessen Gefährten
(die bei Gervinus nicht namentlich genannt werden) hätten von Hause aus
beschlossen, ihren geheimen Verein "in der Meinung der Griechen an die
Stelle des offenkundiger zu schieben" und damit "einen großartigen Betrug"
ins Werk zu richten. Entsprechend dieser Verschiedenartigkeit der ursprüng¬
lichen Daten, weichen auch die Angaben über den weiteren Fortgang, trotz¬
dem daß sie parallel lausen, vielfach ab. Schon weil Prokesch in Bezug auf
die Bildung des Hellenistenbundes mit größerer Ausführlichkeit zu Werke geht
als Gervinus, der Summen zu ziehen geneigt ist,' bevor er auch nur alle ein¬
zelnen Posten in Händen hat -- ist seine verspätete Publication auch jetzt
noch von Wichtigkeit.

In dieser Beziehung ist das erste Capitel -- 1821 -- von besonderem
Interesse. Durch Prokesch erfährt Alexander Upsilanti eine noch härtere und
schonungslosere Verurtheilung als durch Gervinus, der den Haupttheil der
Verantwortlichkeit an dem wahnwitzigen Einfall in die Moldau dem Gra¬
fen Kapodistrias zuwälzen will. Prokesch stellt eine directe und ausdrückliche
Mitwisserschaft und Zustimmung des russischen Ministers zu der Upsilanti-
schen Verschwörung geradezu in Abrede; die Geschichte von der auf Upsilantis
Geheiß geschehenen Ermordung des Kamarinos, eines nach Petersburg abge¬
sandten Agenten, der sich bei seiner Rückreise laut gegen den Wahn der Theil¬
nahme och Kapodistrias aussprach", fehlt bei Gervinus und gerade sie ist für
Charakter und Stellung der beiden handelnden Hauptpersonen von Wichtig-


metral verschiedene Resultate gezogen werden. Voraussetzungsfrei ist Gervinus
ebenso wenig wie Herr v. Prokesch; dem einen kam es darauf an, Oestreichs
orientalische Politik als Theil eines irrigen, auf unsittliche und wahrheits¬
feindliche Prämissen gestützten Gesammtsystems bloszulegen und demgemäß zu
verurtheilen, der andere wollte den Beweis führen, daß die herrschenden
Meinungen über Metternichs Staatskunst wesentlich aus einer mangelhaften
Kenntniß des einschläglichen Materials herrührten.

Ohne an des Jnternuntius „Uninteresstrtheit an den Resultaten" zu
glauben, wird der unbefangene Leser sich dem Eindrucke aber nicht entziehen
können, daß Prokesch in vielen Einzelheiten gründlicher unterrichtet ist, wie
sein Vorgänger, und daß er als Praktiker den Vorzug größerer Nüchternheit
des Urtheils besitzt.

Es zeigt sich das namentlich in Bezug auf die Auffassung der russischen
Politik und ihres obersten Leiters, des Kaisers Alexander, für dessen Beurthei¬
lung Gervinus einen fertigen Rahmen mitbringt, während Prokesch einfach
die Thatsachen reden läßt. Gerade in der Vorgeschichte des Aufstandes von
1821 treten mannigfache Differenzen des Details hervor. Während Gervinus
eine bloße Zusammensetzung zwischen der Gesellschaft der Philomusen und der
Hetärie annimmt, führt Prokesch den Nachweis, Skuffas und dessen Gefährten
(die bei Gervinus nicht namentlich genannt werden) hätten von Hause aus
beschlossen, ihren geheimen Verein „in der Meinung der Griechen an die
Stelle des offenkundiger zu schieben" und damit „einen großartigen Betrug"
ins Werk zu richten. Entsprechend dieser Verschiedenartigkeit der ursprüng¬
lichen Daten, weichen auch die Angaben über den weiteren Fortgang, trotz¬
dem daß sie parallel lausen, vielfach ab. Schon weil Prokesch in Bezug auf
die Bildung des Hellenistenbundes mit größerer Ausführlichkeit zu Werke geht
als Gervinus, der Summen zu ziehen geneigt ist,' bevor er auch nur alle ein¬
zelnen Posten in Händen hat — ist seine verspätete Publication auch jetzt
noch von Wichtigkeit.

In dieser Beziehung ist das erste Capitel — 1821 — von besonderem
Interesse. Durch Prokesch erfährt Alexander Upsilanti eine noch härtere und
schonungslosere Verurtheilung als durch Gervinus, der den Haupttheil der
Verantwortlichkeit an dem wahnwitzigen Einfall in die Moldau dem Gra¬
fen Kapodistrias zuwälzen will. Prokesch stellt eine directe und ausdrückliche
Mitwisserschaft und Zustimmung des russischen Ministers zu der Upsilanti-
schen Verschwörung geradezu in Abrede; die Geschichte von der auf Upsilantis
Geheiß geschehenen Ermordung des Kamarinos, eines nach Petersburg abge¬
sandten Agenten, der sich bei seiner Rückreise laut gegen den Wahn der Theil¬
nahme och Kapodistrias aussprach", fehlt bei Gervinus und gerade sie ist für
Charakter und Stellung der beiden handelnden Hauptpersonen von Wichtig-


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[0236] metral verschiedene Resultate gezogen werden. Voraussetzungsfrei ist Gervinus ebenso wenig wie Herr v. Prokesch; dem einen kam es darauf an, Oestreichs orientalische Politik als Theil eines irrigen, auf unsittliche und wahrheits¬ feindliche Prämissen gestützten Gesammtsystems bloszulegen und demgemäß zu verurtheilen, der andere wollte den Beweis führen, daß die herrschenden Meinungen über Metternichs Staatskunst wesentlich aus einer mangelhaften Kenntniß des einschläglichen Materials herrührten. Ohne an des Jnternuntius „Uninteresstrtheit an den Resultaten" zu glauben, wird der unbefangene Leser sich dem Eindrucke aber nicht entziehen können, daß Prokesch in vielen Einzelheiten gründlicher unterrichtet ist, wie sein Vorgänger, und daß er als Praktiker den Vorzug größerer Nüchternheit des Urtheils besitzt. Es zeigt sich das namentlich in Bezug auf die Auffassung der russischen Politik und ihres obersten Leiters, des Kaisers Alexander, für dessen Beurthei¬ lung Gervinus einen fertigen Rahmen mitbringt, während Prokesch einfach die Thatsachen reden läßt. Gerade in der Vorgeschichte des Aufstandes von 1821 treten mannigfache Differenzen des Details hervor. Während Gervinus eine bloße Zusammensetzung zwischen der Gesellschaft der Philomusen und der Hetärie annimmt, führt Prokesch den Nachweis, Skuffas und dessen Gefährten (die bei Gervinus nicht namentlich genannt werden) hätten von Hause aus beschlossen, ihren geheimen Verein „in der Meinung der Griechen an die Stelle des offenkundiger zu schieben" und damit „einen großartigen Betrug" ins Werk zu richten. Entsprechend dieser Verschiedenartigkeit der ursprüng¬ lichen Daten, weichen auch die Angaben über den weiteren Fortgang, trotz¬ dem daß sie parallel lausen, vielfach ab. Schon weil Prokesch in Bezug auf die Bildung des Hellenistenbundes mit größerer Ausführlichkeit zu Werke geht als Gervinus, der Summen zu ziehen geneigt ist,' bevor er auch nur alle ein¬ zelnen Posten in Händen hat — ist seine verspätete Publication auch jetzt noch von Wichtigkeit. In dieser Beziehung ist das erste Capitel — 1821 — von besonderem Interesse. Durch Prokesch erfährt Alexander Upsilanti eine noch härtere und schonungslosere Verurtheilung als durch Gervinus, der den Haupttheil der Verantwortlichkeit an dem wahnwitzigen Einfall in die Moldau dem Gra¬ fen Kapodistrias zuwälzen will. Prokesch stellt eine directe und ausdrückliche Mitwisserschaft und Zustimmung des russischen Ministers zu der Upsilanti- schen Verschwörung geradezu in Abrede; die Geschichte von der auf Upsilantis Geheiß geschehenen Ermordung des Kamarinos, eines nach Petersburg abge¬ sandten Agenten, der sich bei seiner Rückreise laut gegen den Wahn der Theil¬ nahme och Kapodistrias aussprach", fehlt bei Gervinus und gerade sie ist für Charakter und Stellung der beiden handelnden Hauptpersonen von Wichtig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/236>, abgerufen am 15.01.2025.