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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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lichen Dingen möchten sie der Dictatur des Clerus entschlüpfen. Muthig
und offen vertheidigen sie sich und das wiener Ministerium gegen den Ver¬
dacht der Freimaurerei; sie schwören hoch und theuer, daß sie die christliche
Religion nicht abschaffen, die Vielweiberei nicht einführen wollen, wie von
hundert Kanzeln verkündet wird. Es ist leicht zu merken, daß die Stellung
der Liberalen eine rein abwehrende, nichts weniger als gebietende ist. Wenn
es auch dem Bürgerstande frei steht, die Kirche und was drum und dran
hängt, abseits liegen zu lassen, die Eingeborenen drückt der geistliche Schuh
auf allen Zehen. Hört man etwas näher hin, so kommen Einem wunderliche
Geschichten zu Ohren über die Art, wie der furchtsame Liberale sich mit
Freund und Feind abfindet. Der alte Stöckelmann hat mit oder ohne Um¬
gehung seiner Frau eine Petition gegen das Concordat unterzeichnet; dafür
wirft er am nächsten Sonntag einen doppelten Peterspfennig in die Büchse.
Der vermögliche Kracksenfeld zieht unter Brüdern für sein Leben gern gegen
die Pfaffen los, aber für jedes Fleischsüppchen, das er am Freitag genießt,
wird die angemessene Dispensation gelöst. Diese Fälle sollen gar nicht ver¬
einzelt sein. Was nun das eigentliche Volk in Meran betrifft, so sind ihm
die geistlichen Uebungen aller Art Gewohnheit und Bedürfniß. Doch denke
Niemand, daß es fortwährend auf den Knieen liege und bete -- nein, es
läßt sich in seiner Andacht oft durch sein Tagewerk und seine gottlob, häu¬
figen Mahlzeiten, durch Kegelschub und Scheibenschießen, seltener durch Tanz
und Zitherspiel unterbrechen -- aber es betet viel, sehr viel, es betet in 24
Stunden einen Folioband zusammen. Die Natur hat es übrigens in ihrer
Weisheit so schön eingerichtet, daß die Lippen von all der Anstrengung nicht
welk oder schwielig werden, sondern frisch bleiben zum Schwatzen, Scherzen und
Küssen. Sonst würden viel weniger Sünden begangen und weniger Ab¬
solutionen geholt, was der Religion Abbruch thun würde. Unsere Köchin
Filumena, eine brave alte Person, die kein Quentchen mehr Frömmig¬
keit im Leibe hat als die andern Filumenas in Meran -- nach dieser neapolita¬
nischen Heiligen werden die meisten Dirnen der Umgegend getauft -- und
sich die Seele nicht so fein pflegen kann wie ihre Herrin, hört doch täglich
ihre Frühmesse, läßt dann und wann den Topf überlaufen, um einen kleinen
Extrasprung ins Kirchlein zu thun, und hält wöchentlich großes moralisches
Scheuerfest; regelmäßig geht sie jeden Samstag Abend beichten. Die kürzeren
Gebete werden im Gehen oder Laufen verrichtet. Leise Glöcklein dringen
durch die Luft, sei es Angelus,- Ave Maria oder Mittag, und gleich sieht
man die Männer, Hut oder Mütze in der Hand, murmelnd durch die Straßen
eilen. Im Wirthshause stehen in solchem Augenblick Gruppen von je drei,
vier colossalen Landleuten mitten in der Stube, anscheinend wie Salzsäulen
vor sich hinstarrend. Die zahlreichen Processionen entfalten oft gar keinen
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lichen Dingen möchten sie der Dictatur des Clerus entschlüpfen. Muthig
und offen vertheidigen sie sich und das wiener Ministerium gegen den Ver¬
dacht der Freimaurerei; sie schwören hoch und theuer, daß sie die christliche
Religion nicht abschaffen, die Vielweiberei nicht einführen wollen, wie von
hundert Kanzeln verkündet wird. Es ist leicht zu merken, daß die Stellung
der Liberalen eine rein abwehrende, nichts weniger als gebietende ist. Wenn
es auch dem Bürgerstande frei steht, die Kirche und was drum und dran
hängt, abseits liegen zu lassen, die Eingeborenen drückt der geistliche Schuh
auf allen Zehen. Hört man etwas näher hin, so kommen Einem wunderliche
Geschichten zu Ohren über die Art, wie der furchtsame Liberale sich mit
Freund und Feind abfindet. Der alte Stöckelmann hat mit oder ohne Um¬
gehung seiner Frau eine Petition gegen das Concordat unterzeichnet; dafür
wirft er am nächsten Sonntag einen doppelten Peterspfennig in die Büchse.
Der vermögliche Kracksenfeld zieht unter Brüdern für sein Leben gern gegen
die Pfaffen los, aber für jedes Fleischsüppchen, das er am Freitag genießt,
wird die angemessene Dispensation gelöst. Diese Fälle sollen gar nicht ver¬
einzelt sein. Was nun das eigentliche Volk in Meran betrifft, so sind ihm
die geistlichen Uebungen aller Art Gewohnheit und Bedürfniß. Doch denke
Niemand, daß es fortwährend auf den Knieen liege und bete — nein, es
läßt sich in seiner Andacht oft durch sein Tagewerk und seine gottlob, häu¬
figen Mahlzeiten, durch Kegelschub und Scheibenschießen, seltener durch Tanz
und Zitherspiel unterbrechen — aber es betet viel, sehr viel, es betet in 24
Stunden einen Folioband zusammen. Die Natur hat es übrigens in ihrer
Weisheit so schön eingerichtet, daß die Lippen von all der Anstrengung nicht
welk oder schwielig werden, sondern frisch bleiben zum Schwatzen, Scherzen und
Küssen. Sonst würden viel weniger Sünden begangen und weniger Ab¬
solutionen geholt, was der Religion Abbruch thun würde. Unsere Köchin
Filumena, eine brave alte Person, die kein Quentchen mehr Frömmig¬
keit im Leibe hat als die andern Filumenas in Meran — nach dieser neapolita¬
nischen Heiligen werden die meisten Dirnen der Umgegend getauft — und
sich die Seele nicht so fein pflegen kann wie ihre Herrin, hört doch täglich
ihre Frühmesse, läßt dann und wann den Topf überlaufen, um einen kleinen
Extrasprung ins Kirchlein zu thun, und hält wöchentlich großes moralisches
Scheuerfest; regelmäßig geht sie jeden Samstag Abend beichten. Die kürzeren
Gebete werden im Gehen oder Laufen verrichtet. Leise Glöcklein dringen
durch die Luft, sei es Angelus,- Ave Maria oder Mittag, und gleich sieht
man die Männer, Hut oder Mütze in der Hand, murmelnd durch die Straßen
eilen. Im Wirthshause stehen in solchem Augenblick Gruppen von je drei,
vier colossalen Landleuten mitten in der Stube, anscheinend wie Salzsäulen
vor sich hinstarrend. Die zahlreichen Processionen entfalten oft gar keinen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/199>, abgerufen am 15.01.2025.