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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Ein Deutscher von französischer Abstammung.

Unter allen gebildeten Nationen kommt vielleicht die französische am
schwersten über die Schmerzen gänzlicher Trennung vom Vaterlande. Nur
dann haben Franzosen in größerer Zahl dasselbe verlassen, wenn der Druck
der Staatsgewalt unerträglich und die Gefahren für die Familien allzu drin¬
gend wurden. Das war trotz aller Bemühung der despotischen Regierungen
gegen die Auswanderung der Fall bei den Gewaltsamkeiten Ludwigs XIV.
im siebzehnten und denen der Revolution im achtzehnten Jahrhundert.

Natürlich hat es in früherer und späterer Zeit immerhin einzelne Fran¬
zosen gegeben, die sich in Deutschland aus freiem Entschlüsse eine neue Hei¬
math gründeten. Zahlreiche andere sind durch ihren Beruf als Sprach- und
Tanzmeister, als feinere Handwerker und Kunstgärtner, als Kaufleute und
Offiziere, auch wohl als Spieler unter uns verschlagen worden und ihre Nach¬
kommen allmählich mit deutschem Leben verwachsen. Aber aus einer ganzen
Reihe von Einzelbeispielen darf man den Schluß ziehen, daß auch sie sich
lange gegen völliges Aufgehn in deutsches Wesen gesträubt und gern den
großen Einwandererschaaren aus Frankreich beigesellt haben. So werden
manche noch heute blühende Familien, deren Ahnherren schon während der
französischen Religionskriege des sechzehnten Jahrhunderts nach Deutschland
kamen, nicht ganz mit Recht zu den Refugies gezählt -- wie man noch vor
wenigen Jahrzehnten die Nachkommen der nach Aufhebung der Duldungs¬
gesetze unter Ludwig XIV. geflohenen Reformirten genannt hat.

Dieser Anschluß der vereinzelt nach Deutschland Gewanderten und ihrer
Nachkommen an die größeren französischen Kreise geschah keineswegs blos aus
confessionellen Gründen -- obwohl diese natürlich wesentlich mitgewirkt haben
-- sondern nicht mind'er, um auch in der Fremde heimische Landesart zu be¬
wahren. Lange vermählten sie sich meist mit Landsleuten, blieb das Fran¬
zösische die Haussprache, wurde die gemessene Sitte des altfranzösischen Hauses
der bequemeren deutschen Weise vorgezogen.

Niemand wird sich die ungemein starke Einwirkung verhehlen wollen,
welche die französischen Einwanderer -- die einzelnen wie die ganzen Schaaren
-- auf unser gesellschaftliches, ja auf unser geistiges Leben geübt haben. Der
mannigfachen Anregung, die wir ihnen danken, im einzelnen nachzugehen,
wäre ein so schönes als schwieriges Unternehmen. Denn nur mit großer
Mühe -- mit größerer heute als vor dreißig Jahren -- wären aus den Er¬
innerungen und Aufzeichnungen eingewanderter Familien die nöthigen Nach¬
richten zu gewinnen. Immerhin dürfte es vorläufig ein größeres Publikum


Ein Deutscher von französischer Abstammung.

Unter allen gebildeten Nationen kommt vielleicht die französische am
schwersten über die Schmerzen gänzlicher Trennung vom Vaterlande. Nur
dann haben Franzosen in größerer Zahl dasselbe verlassen, wenn der Druck
der Staatsgewalt unerträglich und die Gefahren für die Familien allzu drin¬
gend wurden. Das war trotz aller Bemühung der despotischen Regierungen
gegen die Auswanderung der Fall bei den Gewaltsamkeiten Ludwigs XIV.
im siebzehnten und denen der Revolution im achtzehnten Jahrhundert.

Natürlich hat es in früherer und späterer Zeit immerhin einzelne Fran¬
zosen gegeben, die sich in Deutschland aus freiem Entschlüsse eine neue Hei¬
math gründeten. Zahlreiche andere sind durch ihren Beruf als Sprach- und
Tanzmeister, als feinere Handwerker und Kunstgärtner, als Kaufleute und
Offiziere, auch wohl als Spieler unter uns verschlagen worden und ihre Nach¬
kommen allmählich mit deutschem Leben verwachsen. Aber aus einer ganzen
Reihe von Einzelbeispielen darf man den Schluß ziehen, daß auch sie sich
lange gegen völliges Aufgehn in deutsches Wesen gesträubt und gern den
großen Einwandererschaaren aus Frankreich beigesellt haben. So werden
manche noch heute blühende Familien, deren Ahnherren schon während der
französischen Religionskriege des sechzehnten Jahrhunderts nach Deutschland
kamen, nicht ganz mit Recht zu den Refugies gezählt — wie man noch vor
wenigen Jahrzehnten die Nachkommen der nach Aufhebung der Duldungs¬
gesetze unter Ludwig XIV. geflohenen Reformirten genannt hat.

Dieser Anschluß der vereinzelt nach Deutschland Gewanderten und ihrer
Nachkommen an die größeren französischen Kreise geschah keineswegs blos aus
confessionellen Gründen — obwohl diese natürlich wesentlich mitgewirkt haben
— sondern nicht mind'er, um auch in der Fremde heimische Landesart zu be¬
wahren. Lange vermählten sie sich meist mit Landsleuten, blieb das Fran¬
zösische die Haussprache, wurde die gemessene Sitte des altfranzösischen Hauses
der bequemeren deutschen Weise vorgezogen.

Niemand wird sich die ungemein starke Einwirkung verhehlen wollen,
welche die französischen Einwanderer — die einzelnen wie die ganzen Schaaren
— auf unser gesellschaftliches, ja auf unser geistiges Leben geübt haben. Der
mannigfachen Anregung, die wir ihnen danken, im einzelnen nachzugehen,
wäre ein so schönes als schwieriges Unternehmen. Denn nur mit großer
Mühe — mit größerer heute als vor dreißig Jahren — wären aus den Er¬
innerungen und Aufzeichnungen eingewanderter Familien die nöthigen Nach¬
richten zu gewinnen. Immerhin dürfte es vorläufig ein größeres Publikum


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[0154] Ein Deutscher von französischer Abstammung. Unter allen gebildeten Nationen kommt vielleicht die französische am schwersten über die Schmerzen gänzlicher Trennung vom Vaterlande. Nur dann haben Franzosen in größerer Zahl dasselbe verlassen, wenn der Druck der Staatsgewalt unerträglich und die Gefahren für die Familien allzu drin¬ gend wurden. Das war trotz aller Bemühung der despotischen Regierungen gegen die Auswanderung der Fall bei den Gewaltsamkeiten Ludwigs XIV. im siebzehnten und denen der Revolution im achtzehnten Jahrhundert. Natürlich hat es in früherer und späterer Zeit immerhin einzelne Fran¬ zosen gegeben, die sich in Deutschland aus freiem Entschlüsse eine neue Hei¬ math gründeten. Zahlreiche andere sind durch ihren Beruf als Sprach- und Tanzmeister, als feinere Handwerker und Kunstgärtner, als Kaufleute und Offiziere, auch wohl als Spieler unter uns verschlagen worden und ihre Nach¬ kommen allmählich mit deutschem Leben verwachsen. Aber aus einer ganzen Reihe von Einzelbeispielen darf man den Schluß ziehen, daß auch sie sich lange gegen völliges Aufgehn in deutsches Wesen gesträubt und gern den großen Einwandererschaaren aus Frankreich beigesellt haben. So werden manche noch heute blühende Familien, deren Ahnherren schon während der französischen Religionskriege des sechzehnten Jahrhunderts nach Deutschland kamen, nicht ganz mit Recht zu den Refugies gezählt — wie man noch vor wenigen Jahrzehnten die Nachkommen der nach Aufhebung der Duldungs¬ gesetze unter Ludwig XIV. geflohenen Reformirten genannt hat. Dieser Anschluß der vereinzelt nach Deutschland Gewanderten und ihrer Nachkommen an die größeren französischen Kreise geschah keineswegs blos aus confessionellen Gründen — obwohl diese natürlich wesentlich mitgewirkt haben — sondern nicht mind'er, um auch in der Fremde heimische Landesart zu be¬ wahren. Lange vermählten sie sich meist mit Landsleuten, blieb das Fran¬ zösische die Haussprache, wurde die gemessene Sitte des altfranzösischen Hauses der bequemeren deutschen Weise vorgezogen. Niemand wird sich die ungemein starke Einwirkung verhehlen wollen, welche die französischen Einwanderer — die einzelnen wie die ganzen Schaaren — auf unser gesellschaftliches, ja auf unser geistiges Leben geübt haben. Der mannigfachen Anregung, die wir ihnen danken, im einzelnen nachzugehen, wäre ein so schönes als schwieriges Unternehmen. Denn nur mit großer Mühe — mit größerer heute als vor dreißig Jahren — wären aus den Er¬ innerungen und Aufzeichnungen eingewanderter Familien die nöthigen Nach¬ richten zu gewinnen. Immerhin dürfte es vorläufig ein größeres Publikum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/154>, abgerufen am 15.01.2025.