"einzige Heilmittel gegen die verderblichen Lehren der Gegenwart" zu betrach¬ ten sei. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich die geforderte Waffe gegen die Clericalen selbst wenden; immerhin bleibt es charakteristisch, was diese Partei unternimmt und aufs Spiel setzt, um der gefahrdrohenden Verbreitung der Bildung und freier Anschauungen begegnen zu können. Die Energie der Bekämpfung bezeugt am Besten die Stärke der bekämpften Sache.
Die Deutschen müssen sich dieser Bewegung gegenüber vor Selbstüber¬ hebung hüten; man hört in Deutschland eine Menge geringschätziger Urtheile über fremde Bildung und über das Wissen der Ausländer, die zu ihrem allergrößten Theile auf Unkenntniß oder Mißverständnis) beruhen. Es ist namentlich bei uns Sitte geworden, mit Achselzucken von der Ungründlichkeit der französischen Bildung zu sprechen. Jetzt beginnt nun deutsche Bildung sich mit reißender Schnelligkeit in Frankreich auszubreiten und fast zugleich nimmt das von hier und anderswoher Aufgenommene eine eigenthümliche nationale Form an. Seit einigen Jahren aber ist hier der öffentliche Unterricht in völliger Umgestaltung begriffen, und gleichzeitig wird er allen Schichten der Bevölkerung zugänglich gemacht. Herr Renan bemerkt einmal gelegentlich in seinen "zuestivns contcnn- vorainss, daß ein Gesetz über den öffentlichen Unterricht in Frankreich nicht mehr Zeit gebraucht, um gegeben zu werden, zu leben und zu sterben, als ein Deutscher nöthig hat, um sich darüber eine klare Idee zu bilden. Soll damit unserer Langsamkeit zu denken und zu begreifen ein Hieb gegeben werden, so trifft dieser nur zur Hälfte; denn die Menschen brauchen unter allen Verhältnissen mehr Zeit, um die Erscheinungen, sei es der natürlichen, sei es der socialen Welt, zu begreifen, als diese nöthig haben, um sich zu vollziehen. Jeder wird aber den angeführten Ausspruch treffend finden, wenn er die wunderbare Beweglichkeit des französischen Geistes schildern soll. Wenn wir uns selbstgefällig gegen fremde Bildung abschließen und unsere Anschau¬ ungen nicht durch die Gesichtspunkte der anderen Völker erweitern und be¬ richtigen, so werden wir auf dem Gebiete, wo wir bisher eine hervorragende Stellung einnahmen, nämlich in der Vielseitigkeit unserer Bildung und der Gründlichkeit unseres Wissens, überholt werden.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die Stimmung gegen Deutschland.
Ich lege natürlich mehr Gewicht auf das, was ich privatim von Franzosen höre und lerne, als was die Zeitungen, auch die sogenannten unabhängigen urtheilen. Bezeichnend ist es aber doch, daß man in allen diesen Freiheit, Volksrechte und Nationalitätsprincip speciell vertretenden Blättern vergeblich nach einem der deutschen Sache sympathischen Gedanken sucht. Ich nehme durch¬ aus nicht den "Temps" aus, welcher es mit seiner phrasenhaften Friedensagi¬ tation im vorigen Frühling (die sogenannte ligus ne 1a xaix, welche Herr
„einzige Heilmittel gegen die verderblichen Lehren der Gegenwart" zu betrach¬ ten sei. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich die geforderte Waffe gegen die Clericalen selbst wenden; immerhin bleibt es charakteristisch, was diese Partei unternimmt und aufs Spiel setzt, um der gefahrdrohenden Verbreitung der Bildung und freier Anschauungen begegnen zu können. Die Energie der Bekämpfung bezeugt am Besten die Stärke der bekämpften Sache.
Die Deutschen müssen sich dieser Bewegung gegenüber vor Selbstüber¬ hebung hüten; man hört in Deutschland eine Menge geringschätziger Urtheile über fremde Bildung und über das Wissen der Ausländer, die zu ihrem allergrößten Theile auf Unkenntniß oder Mißverständnis) beruhen. Es ist namentlich bei uns Sitte geworden, mit Achselzucken von der Ungründlichkeit der französischen Bildung zu sprechen. Jetzt beginnt nun deutsche Bildung sich mit reißender Schnelligkeit in Frankreich auszubreiten und fast zugleich nimmt das von hier und anderswoher Aufgenommene eine eigenthümliche nationale Form an. Seit einigen Jahren aber ist hier der öffentliche Unterricht in völliger Umgestaltung begriffen, und gleichzeitig wird er allen Schichten der Bevölkerung zugänglich gemacht. Herr Renan bemerkt einmal gelegentlich in seinen «zuestivns contcnn- vorainss, daß ein Gesetz über den öffentlichen Unterricht in Frankreich nicht mehr Zeit gebraucht, um gegeben zu werden, zu leben und zu sterben, als ein Deutscher nöthig hat, um sich darüber eine klare Idee zu bilden. Soll damit unserer Langsamkeit zu denken und zu begreifen ein Hieb gegeben werden, so trifft dieser nur zur Hälfte; denn die Menschen brauchen unter allen Verhältnissen mehr Zeit, um die Erscheinungen, sei es der natürlichen, sei es der socialen Welt, zu begreifen, als diese nöthig haben, um sich zu vollziehen. Jeder wird aber den angeführten Ausspruch treffend finden, wenn er die wunderbare Beweglichkeit des französischen Geistes schildern soll. Wenn wir uns selbstgefällig gegen fremde Bildung abschließen und unsere Anschau¬ ungen nicht durch die Gesichtspunkte der anderen Völker erweitern und be¬ richtigen, so werden wir auf dem Gebiete, wo wir bisher eine hervorragende Stellung einnahmen, nämlich in der Vielseitigkeit unserer Bildung und der Gründlichkeit unseres Wissens, überholt werden.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die Stimmung gegen Deutschland.
Ich lege natürlich mehr Gewicht auf das, was ich privatim von Franzosen höre und lerne, als was die Zeitungen, auch die sogenannten unabhängigen urtheilen. Bezeichnend ist es aber doch, daß man in allen diesen Freiheit, Volksrechte und Nationalitätsprincip speciell vertretenden Blättern vergeblich nach einem der deutschen Sache sympathischen Gedanken sucht. Ich nehme durch¬ aus nicht den „Temps" aus, welcher es mit seiner phrasenhaften Friedensagi¬ tation im vorigen Frühling (die sogenannte ligus ne 1a xaix, welche Herr
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„einzige Heilmittel gegen die verderblichen Lehren der Gegenwart" zu betrach¬
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die Clericalen selbst wenden; immerhin bleibt es charakteristisch, was diese
Partei unternimmt und aufs Spiel setzt, um der gefahrdrohenden Verbreitung
der Bildung und freier Anschauungen begegnen zu können. Die Energie
der Bekämpfung bezeugt am Besten die Stärke der bekämpften Sache.
Die Deutschen müssen sich dieser Bewegung gegenüber vor Selbstüber¬
hebung hüten; man hört in Deutschland eine Menge geringschätziger Urtheile
über fremde Bildung und über das Wissen der Ausländer, die zu ihrem
allergrößten Theile auf Unkenntniß oder Mißverständnis) beruhen. Es ist
namentlich bei uns Sitte geworden, mit Achselzucken von der Ungründlichkeit
der französischen Bildung zu sprechen. Jetzt beginnt nun deutsche Bildung sich mit
reißender Schnelligkeit in Frankreich auszubreiten und fast zugleich nimmt das von
hier und anderswoher Aufgenommene eine eigenthümliche nationale Form an.
Seit einigen Jahren aber ist hier der öffentliche Unterricht in völliger Umgestaltung
begriffen, und gleichzeitig wird er allen Schichten der Bevölkerung zugänglich
gemacht. Herr Renan bemerkt einmal gelegentlich in seinen «zuestivns contcnn-
vorainss, daß ein Gesetz über den öffentlichen Unterricht in Frankreich nicht
mehr Zeit gebraucht, um gegeben zu werden, zu leben und zu sterben, als
ein Deutscher nöthig hat, um sich darüber eine klare Idee zu bilden. Soll
damit unserer Langsamkeit zu denken und zu begreifen ein Hieb gegeben
werden, so trifft dieser nur zur Hälfte; denn die Menschen brauchen unter
allen Verhältnissen mehr Zeit, um die Erscheinungen, sei es der natürlichen,
sei es der socialen Welt, zu begreifen, als diese nöthig haben, um sich zu
vollziehen. Jeder wird aber den angeführten Ausspruch treffend finden, wenn
er die wunderbare Beweglichkeit des französischen Geistes schildern soll. Wenn
wir uns selbstgefällig gegen fremde Bildung abschließen und unsere Anschau¬
ungen nicht durch die Gesichtspunkte der anderen Völker erweitern und be¬
richtigen, so werden wir auf dem Gebiete, wo wir bisher eine hervorragende
Stellung einnahmen, nämlich in der Vielseitigkeit unserer Bildung und der
Gründlichkeit unseres Wissens, überholt werden.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die Stimmung gegen
Deutschland.
Ich lege natürlich mehr Gewicht auf das, was ich privatim von Franzosen
höre und lerne, als was die Zeitungen, auch die sogenannten unabhängigen
urtheilen. Bezeichnend ist es aber doch, daß man in allen diesen Freiheit,
Volksrechte und Nationalitätsprincip speciell vertretenden Blättern vergeblich
nach einem der deutschen Sache sympathischen Gedanken sucht. Ich nehme durch¬
aus nicht den „Temps" aus, welcher es mit seiner phrasenhaften Friedensagi¬
tation im vorigen Frühling (die sogenannte ligus ne 1a xaix, welche Herr
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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/150>, abgerufen am 23.01.2025.
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