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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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den Flecken unbestreitbar einen höheren Werth gebe, er wollte auf diese
Weise allmählich auch Stimmen für die unvertretenen großen Städte ge¬
winnen. Es ließ sich hiegegen unzweifelhaft viel sagen; gleichwohl bleibt
es sehr zu bedauern, daß der Versuch, eine allmähliche Aenderung des Wahl¬
rechts zu erwirken, zu der Zeit mißlang, wo er schon geboten und doch noch
nicht ungestüm gefordert ward.

Die französische Revolution verdrängt bald alle Reformpläne; die An¬
träge von G. Erskine und Fox fanden so gut wie keine Unterstützung. Denn
die conservative Reaction, welche die Ausschreitungen der Revolution in Eng¬
land hervorrief/,steigerte sich, je länger der Kampf gegen Napoleon dauerte und
das schroffe Toryregiment, welches auf Pitt folgte, behauptete sich noch
lange nach dem Frieden gegen die allmählich erstarkende Bewegung für
eine gerechtere Vertretung der Bevölkerung. An die Spitze dieser Be¬
wegung traten die Whigs, ursprünglich ebenso starke Anhänger des alten
Systems wie die Tories, weil namentlich in den Grafschaften die Zusammen¬
setzung des Unterhauses ihren Häuptern, den sogenannten grva,t Revolution
tamilivL, die Staatsleitung gesichert hatte. Seitdem diese aber unter dem Druck
der auswärtigen Politik auf ihre Gegner übergegangen war, lag für sie die
einzige Chance, wieder zur Macht zu gelangen, in einer Reform des Hauses
der Gemeinen. Wären die Tories weise gewesen, so hätten sie sich der Noth¬
wendigkeit einer Reform, die schon vor 80 Jahren anerkannt war, nicht ver¬
schlossen; es war ein Widersinn, daß Städte wie Manchester, Leeds und
Birmingham, welche bereits das Wahlrecht vorübergehend besessen, als sie
vergleichsweise unbedeutend waren, jetzt wo sie zu blühenden Großstädten
herangewachsen, ohne Vertretung dastanden. Aber unter dem Einfluß des
Herzogs von Wellington blieb die regierende Partei blind in ihrem Kampfe
für das Bestehende und verweigerte jede, auch die bescheidenste Abschlags¬
zahlung. Als das Unterhaus auf den Antrag Lord John Russell's, der jetzt
seine Reformlaufbahn begann, dem Flecken Gremprund wegen unverbesser¬
licher Bestechlichkett das Wahlrecht entzog, weigerten sich die Lords, dasselbe
auf Birmingham zu übertragen; andere notorische Fälle der Corruption
wurden durch den Uebergang zur Tagesordnung todtgemacht und die ge¬
mäßigtsten Vorschläge einer allgemeineren Reform abgelehnt, welche noch da¬
mals der Bewegung die Spitze würde abgebrochen haben. Der eiserne Herzog
blieb unbeweglich, obwohl mit Huskisson, Palmerston, Lord Dudley und
anderen Ministern, die einer nach dem andern zurücktraten, sein Cabinet
der besten Kräfte beraubt ward. Wellington war aber mehr General und
Minister, als konstitutioneller Staatsmann, er fand, es lasse sich vortrefflich
mit dem gegenwärtigen Hause regieren, folglich sei ein Wechsel im System
unnöthig. Auch das Avertissement der Julirevolution, welche in England


den Flecken unbestreitbar einen höheren Werth gebe, er wollte auf diese
Weise allmählich auch Stimmen für die unvertretenen großen Städte ge¬
winnen. Es ließ sich hiegegen unzweifelhaft viel sagen; gleichwohl bleibt
es sehr zu bedauern, daß der Versuch, eine allmähliche Aenderung des Wahl¬
rechts zu erwirken, zu der Zeit mißlang, wo er schon geboten und doch noch
nicht ungestüm gefordert ward.

Die französische Revolution verdrängt bald alle Reformpläne; die An¬
träge von G. Erskine und Fox fanden so gut wie keine Unterstützung. Denn
die conservative Reaction, welche die Ausschreitungen der Revolution in Eng¬
land hervorrief/,steigerte sich, je länger der Kampf gegen Napoleon dauerte und
das schroffe Toryregiment, welches auf Pitt folgte, behauptete sich noch
lange nach dem Frieden gegen die allmählich erstarkende Bewegung für
eine gerechtere Vertretung der Bevölkerung. An die Spitze dieser Be¬
wegung traten die Whigs, ursprünglich ebenso starke Anhänger des alten
Systems wie die Tories, weil namentlich in den Grafschaften die Zusammen¬
setzung des Unterhauses ihren Häuptern, den sogenannten grva,t Revolution
tamilivL, die Staatsleitung gesichert hatte. Seitdem diese aber unter dem Druck
der auswärtigen Politik auf ihre Gegner übergegangen war, lag für sie die
einzige Chance, wieder zur Macht zu gelangen, in einer Reform des Hauses
der Gemeinen. Wären die Tories weise gewesen, so hätten sie sich der Noth¬
wendigkeit einer Reform, die schon vor 80 Jahren anerkannt war, nicht ver¬
schlossen; es war ein Widersinn, daß Städte wie Manchester, Leeds und
Birmingham, welche bereits das Wahlrecht vorübergehend besessen, als sie
vergleichsweise unbedeutend waren, jetzt wo sie zu blühenden Großstädten
herangewachsen, ohne Vertretung dastanden. Aber unter dem Einfluß des
Herzogs von Wellington blieb die regierende Partei blind in ihrem Kampfe
für das Bestehende und verweigerte jede, auch die bescheidenste Abschlags¬
zahlung. Als das Unterhaus auf den Antrag Lord John Russell's, der jetzt
seine Reformlaufbahn begann, dem Flecken Gremprund wegen unverbesser¬
licher Bestechlichkett das Wahlrecht entzog, weigerten sich die Lords, dasselbe
auf Birmingham zu übertragen; andere notorische Fälle der Corruption
wurden durch den Uebergang zur Tagesordnung todtgemacht und die ge¬
mäßigtsten Vorschläge einer allgemeineren Reform abgelehnt, welche noch da¬
mals der Bewegung die Spitze würde abgebrochen haben. Der eiserne Herzog
blieb unbeweglich, obwohl mit Huskisson, Palmerston, Lord Dudley und
anderen Ministern, die einer nach dem andern zurücktraten, sein Cabinet
der besten Kräfte beraubt ward. Wellington war aber mehr General und
Minister, als konstitutioneller Staatsmann, er fand, es lasse sich vortrefflich
mit dem gegenwärtigen Hause regieren, folglich sei ein Wechsel im System
unnöthig. Auch das Avertissement der Julirevolution, welche in England


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/98>, abgerufen am 05.02.2025.