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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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rung der Lage des weiblichen Geschlechts unter gewissen regelmäßig wieder¬
kehrenden Umständen noch reichlichenSpielraum gibt, lehrt ein Blick auf Eng¬
land. Wir wollen nur auf einige der dortigen Bestrebungen andeutungsweise
aufmerksam machen.

Ende Mai dieses Jahres ging von Liverpool ein Segelschiff in See,
das hundertundzehn junge Frauenzimmer nach Canada bringen sollte. Ihre
Führerin, Miß Rye, die schon früher ähnliche Transporte nach Australien
begleitet hat, war vorab mit den colonialen Regierungsbehörden in Verbin¬
dung getreten und hatte sich so vergewissert, daß ihre Pflegebefohlenen in
Quebec, Montreal, Toronto und anderen kanadischen Städten willkommen
sein würden. Die Wichtigkeit dieser Art von Auswanderung kann nicht
leicht zu hoch angeschlagen werden. Sicherer, handgreiflicher als jede andere
hilft sie jenseits einem Mangel und diesseits einem Ueberfluß ab, erfüllt
also den wahren Zweck alles Austausches zwischen verschiedenen Zonen und
Völkern. Sie verpflanzt weibliche Arbeitskraft aus einem Lande, wo sie
überreichlich vorhanden ist, folglich niedrig im Preise steht, nach einem ande¬
ren Lande, wo das gerade Gegentheil der Fall ist. Und woher, rührt es
denn, daß im Vergleich zu männlicher Arbeitskraft weibliche Arbeitskräfte
in England (und ebenso in Deutschland) so überreichlich vorhanden ist?
Von der regelmäßigen Auswanderung so vieler ihr Glück suchender junger
Männer nach anderen Welttheilen. Was also kann richtiger sein als Ver¬
anstaltungen treffen, um ihnen die entsprechende Anzahl junger Frauenzimmer
nachzusenden? Da es im Allgemeinen noch nicht Mode ist, daß Mädchen sich
entschließen, allein und auf gut Glück übers Meer zu gehen, so muß eine
Vermittelung wie die der wackeren Miß Rye dazwischen treten. Die Auswan¬
derungslustigen müssen gesammelt, von einer geeigneten Führerin begleitet
und drüben womöglich gleich in vorab eröffnete Stellen hineingewiesen wer¬
den. Der einzige Fehler jener Veranstaltung ist, daß sie nicht mit noch
größeren Zahlen auftritt. Hundert oder zweihundert Mädchen im Jahre auf
ein Land wie England verringern das Angebot von weiblichen Arbeitskräften
noch nicht sehr fühlbar. In Deutschland, dessen continentale Lage obendrew
Nachschub aus den Nachbarländern bequem gestattet, würden sie es selbstver¬
ständlich noch weniger thun. Es wäre denn, daß das Beispiel und die Be¬
richte der zuerst ausgewanderten Frauenzimmer mit der Zeit zu massenhafterer
Nachfolge Veranlassung gäben.

Eine sehr heilsame, den deutschen Großstädten zu empfehlende Einrich¬
tung ist die des in London gegründeten Clubs für Arbeiterinnen. Dort
finden die zahlreichen Frauen und Mädchen, welche allein stehen und sich an teil
befriedigendes Familienleben anzuschließen vermögen, zu jeder Zeit einen an¬
ständigen, von Versuchung freien, behaglichen Aufenthalt, mit Gelegenheit


rung der Lage des weiblichen Geschlechts unter gewissen regelmäßig wieder¬
kehrenden Umständen noch reichlichenSpielraum gibt, lehrt ein Blick auf Eng¬
land. Wir wollen nur auf einige der dortigen Bestrebungen andeutungsweise
aufmerksam machen.

Ende Mai dieses Jahres ging von Liverpool ein Segelschiff in See,
das hundertundzehn junge Frauenzimmer nach Canada bringen sollte. Ihre
Führerin, Miß Rye, die schon früher ähnliche Transporte nach Australien
begleitet hat, war vorab mit den colonialen Regierungsbehörden in Verbin¬
dung getreten und hatte sich so vergewissert, daß ihre Pflegebefohlenen in
Quebec, Montreal, Toronto und anderen kanadischen Städten willkommen
sein würden. Die Wichtigkeit dieser Art von Auswanderung kann nicht
leicht zu hoch angeschlagen werden. Sicherer, handgreiflicher als jede andere
hilft sie jenseits einem Mangel und diesseits einem Ueberfluß ab, erfüllt
also den wahren Zweck alles Austausches zwischen verschiedenen Zonen und
Völkern. Sie verpflanzt weibliche Arbeitskraft aus einem Lande, wo sie
überreichlich vorhanden ist, folglich niedrig im Preise steht, nach einem ande¬
ren Lande, wo das gerade Gegentheil der Fall ist. Und woher, rührt es
denn, daß im Vergleich zu männlicher Arbeitskraft weibliche Arbeitskräfte
in England (und ebenso in Deutschland) so überreichlich vorhanden ist?
Von der regelmäßigen Auswanderung so vieler ihr Glück suchender junger
Männer nach anderen Welttheilen. Was also kann richtiger sein als Ver¬
anstaltungen treffen, um ihnen die entsprechende Anzahl junger Frauenzimmer
nachzusenden? Da es im Allgemeinen noch nicht Mode ist, daß Mädchen sich
entschließen, allein und auf gut Glück übers Meer zu gehen, so muß eine
Vermittelung wie die der wackeren Miß Rye dazwischen treten. Die Auswan¬
derungslustigen müssen gesammelt, von einer geeigneten Führerin begleitet
und drüben womöglich gleich in vorab eröffnete Stellen hineingewiesen wer¬
den. Der einzige Fehler jener Veranstaltung ist, daß sie nicht mit noch
größeren Zahlen auftritt. Hundert oder zweihundert Mädchen im Jahre auf
ein Land wie England verringern das Angebot von weiblichen Arbeitskräften
noch nicht sehr fühlbar. In Deutschland, dessen continentale Lage obendrew
Nachschub aus den Nachbarländern bequem gestattet, würden sie es selbstver¬
ständlich noch weniger thun. Es wäre denn, daß das Beispiel und die Be¬
richte der zuerst ausgewanderten Frauenzimmer mit der Zeit zu massenhafterer
Nachfolge Veranlassung gäben.

Eine sehr heilsame, den deutschen Großstädten zu empfehlende Einrich¬
tung ist die des in London gegründeten Clubs für Arbeiterinnen. Dort
finden die zahlreichen Frauen und Mädchen, welche allein stehen und sich an teil
befriedigendes Familienleben anzuschließen vermögen, zu jeder Zeit einen an¬
ständigen, von Versuchung freien, behaglichen Aufenthalt, mit Gelegenheit


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[0072] rung der Lage des weiblichen Geschlechts unter gewissen regelmäßig wieder¬ kehrenden Umständen noch reichlichenSpielraum gibt, lehrt ein Blick auf Eng¬ land. Wir wollen nur auf einige der dortigen Bestrebungen andeutungsweise aufmerksam machen. Ende Mai dieses Jahres ging von Liverpool ein Segelschiff in See, das hundertundzehn junge Frauenzimmer nach Canada bringen sollte. Ihre Führerin, Miß Rye, die schon früher ähnliche Transporte nach Australien begleitet hat, war vorab mit den colonialen Regierungsbehörden in Verbin¬ dung getreten und hatte sich so vergewissert, daß ihre Pflegebefohlenen in Quebec, Montreal, Toronto und anderen kanadischen Städten willkommen sein würden. Die Wichtigkeit dieser Art von Auswanderung kann nicht leicht zu hoch angeschlagen werden. Sicherer, handgreiflicher als jede andere hilft sie jenseits einem Mangel und diesseits einem Ueberfluß ab, erfüllt also den wahren Zweck alles Austausches zwischen verschiedenen Zonen und Völkern. Sie verpflanzt weibliche Arbeitskraft aus einem Lande, wo sie überreichlich vorhanden ist, folglich niedrig im Preise steht, nach einem ande¬ ren Lande, wo das gerade Gegentheil der Fall ist. Und woher, rührt es denn, daß im Vergleich zu männlicher Arbeitskraft weibliche Arbeitskräfte in England (und ebenso in Deutschland) so überreichlich vorhanden ist? Von der regelmäßigen Auswanderung so vieler ihr Glück suchender junger Männer nach anderen Welttheilen. Was also kann richtiger sein als Ver¬ anstaltungen treffen, um ihnen die entsprechende Anzahl junger Frauenzimmer nachzusenden? Da es im Allgemeinen noch nicht Mode ist, daß Mädchen sich entschließen, allein und auf gut Glück übers Meer zu gehen, so muß eine Vermittelung wie die der wackeren Miß Rye dazwischen treten. Die Auswan¬ derungslustigen müssen gesammelt, von einer geeigneten Führerin begleitet und drüben womöglich gleich in vorab eröffnete Stellen hineingewiesen wer¬ den. Der einzige Fehler jener Veranstaltung ist, daß sie nicht mit noch größeren Zahlen auftritt. Hundert oder zweihundert Mädchen im Jahre auf ein Land wie England verringern das Angebot von weiblichen Arbeitskräften noch nicht sehr fühlbar. In Deutschland, dessen continentale Lage obendrew Nachschub aus den Nachbarländern bequem gestattet, würden sie es selbstver¬ ständlich noch weniger thun. Es wäre denn, daß das Beispiel und die Be¬ richte der zuerst ausgewanderten Frauenzimmer mit der Zeit zu massenhafterer Nachfolge Veranlassung gäben. Eine sehr heilsame, den deutschen Großstädten zu empfehlende Einrich¬ tung ist die des in London gegründeten Clubs für Arbeiterinnen. Dort finden die zahlreichen Frauen und Mädchen, welche allein stehen und sich an teil befriedigendes Familienleben anzuschließen vermögen, zu jeder Zeit einen an¬ ständigen, von Versuchung freien, behaglichen Aufenthalt, mit Gelegenheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/72>, abgerufen am 05.02.2025.