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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Er kann sich allerdings auf Beispiele berufen. Allein bis jetzt erscheint es
doch zweifelhaft, ob die jetzige Kammer bestimmt ist, erst in sechs Jahren eines
natürlichen Todes zu sterben. Das Verhältniß der Parteien macht dies nahezu
unmöglich.

Dies ist in der That seltsam genug. Kunstvoller könnten die Gruppen
gar nicht vertheilt sein, um sich gegenseitig im Schach zu halten. Aeußerste
Linke 23 Mann, linkes Centrum (sogenannte Großdeutsche) 20 Mann, macht
für die vereinigte Linke 4S Stimmen. Regierungspartei 8, Ritter und Prä¬
laten 23, nationale Partei 14, thut zusammen wieder 45 Stimmen. Sobald
also die vereinigte Linke zusammenhält und andererseits die nationale Partei
mit der Rechten geht, stehen sich die Parteien in gleicher Stärke gegenüber,
jede richtige Entscheidung ist unberechenbar, vom Zufall abhängig. Die
geringste Anwandlung von Jndisciplin oder die wenigen Stimmen der
Wilden vermögen das Zünglein der Wage hierhin oder dorthin zu neigen.
Doch hat es bis jetzt eher Neigung zur Linken, theils weil die Rechte aus
zu verschiedenartigen Elementen besteht, um eng zusammenzuhalten, theils
durch den Ausschlag der Ultramontanen, welche an Eifer gegen das Mini¬
sterium, wenigstens im Stillen, es der Volkspartei fast noch zuvor thun und
gemeinschaftlich mit ihr für ein Ministerium Neurath-Mittnacht arbeiten, .dem
dann, wie man hofft, bald in den Nachbarstaaten rechts und links homogene
Ministerien folgen werden, Ministerien des Südbundes.

Was ist unter diesen Umständen die Aufgabe der nationalen Partei?
Sie faßt sich in die Frage zusammen: Hat die nationale Partei ein Interesse
daran, das Ministerium Varnbüler zu halten, weil hinter diesem ein Mini¬
sterium Neurath steht? Stünden die Dinge auch nur so wie in München,
wo eine, wenn auch höchst behutsame, doch ehrliche und zuverlässige Verwal¬
tung, der ein nationales Gewissen schlägt, am Ruder ist, eine Verwaltung,
hinter welcher zugleich eine ansehnliche, politisch achtbare Mittelpartei steht,
so könnte jene Frage gar nicht aufgeworfen werden. Allein das Ministerium
Varnbüler-Mittnacht-Golther hat sich in den deutschen Dingen einen ganz
anderen Ruf erworben, es nimmt nicht zur Schonung der Stammesvorurtheile
eine vermittelnde Stellung ein. sondern es hat eben diese Vorurtheile aufs
Aeußerste gereizt und gesteigert. Niemand hat das Vertrauen, daß es öst¬
reichischen oder französischen Einflüssen das Ohr verschließe, und hinter diesem
Ministerium steht eine kleine Partei, unzuverlässig, politischer Grundsätze bar,
die ihre Fühlung gar nicht nach der nationalen Seite sucht, außer wo sie
die dortigen Stimmen für ihre Zwecke braucht, die vielmehr ihre natürlichen
Anknüpfungspunkte in der großdeutschen Linken hat. wo es längst nicht an
Symptomen der Gegenneigung fehlt und wo z. B. Oesterlen ebenso gern
sich finden läßt, als er aufgesucht wird. Unter diesen Umständen ist es eine


Er kann sich allerdings auf Beispiele berufen. Allein bis jetzt erscheint es
doch zweifelhaft, ob die jetzige Kammer bestimmt ist, erst in sechs Jahren eines
natürlichen Todes zu sterben. Das Verhältniß der Parteien macht dies nahezu
unmöglich.

Dies ist in der That seltsam genug. Kunstvoller könnten die Gruppen
gar nicht vertheilt sein, um sich gegenseitig im Schach zu halten. Aeußerste
Linke 23 Mann, linkes Centrum (sogenannte Großdeutsche) 20 Mann, macht
für die vereinigte Linke 4S Stimmen. Regierungspartei 8, Ritter und Prä¬
laten 23, nationale Partei 14, thut zusammen wieder 45 Stimmen. Sobald
also die vereinigte Linke zusammenhält und andererseits die nationale Partei
mit der Rechten geht, stehen sich die Parteien in gleicher Stärke gegenüber,
jede richtige Entscheidung ist unberechenbar, vom Zufall abhängig. Die
geringste Anwandlung von Jndisciplin oder die wenigen Stimmen der
Wilden vermögen das Zünglein der Wage hierhin oder dorthin zu neigen.
Doch hat es bis jetzt eher Neigung zur Linken, theils weil die Rechte aus
zu verschiedenartigen Elementen besteht, um eng zusammenzuhalten, theils
durch den Ausschlag der Ultramontanen, welche an Eifer gegen das Mini¬
sterium, wenigstens im Stillen, es der Volkspartei fast noch zuvor thun und
gemeinschaftlich mit ihr für ein Ministerium Neurath-Mittnacht arbeiten, .dem
dann, wie man hofft, bald in den Nachbarstaaten rechts und links homogene
Ministerien folgen werden, Ministerien des Südbundes.

Was ist unter diesen Umständen die Aufgabe der nationalen Partei?
Sie faßt sich in die Frage zusammen: Hat die nationale Partei ein Interesse
daran, das Ministerium Varnbüler zu halten, weil hinter diesem ein Mini¬
sterium Neurath steht? Stünden die Dinge auch nur so wie in München,
wo eine, wenn auch höchst behutsame, doch ehrliche und zuverlässige Verwal¬
tung, der ein nationales Gewissen schlägt, am Ruder ist, eine Verwaltung,
hinter welcher zugleich eine ansehnliche, politisch achtbare Mittelpartei steht,
so könnte jene Frage gar nicht aufgeworfen werden. Allein das Ministerium
Varnbüler-Mittnacht-Golther hat sich in den deutschen Dingen einen ganz
anderen Ruf erworben, es nimmt nicht zur Schonung der Stammesvorurtheile
eine vermittelnde Stellung ein. sondern es hat eben diese Vorurtheile aufs
Aeußerste gereizt und gesteigert. Niemand hat das Vertrauen, daß es öst¬
reichischen oder französischen Einflüssen das Ohr verschließe, und hinter diesem
Ministerium steht eine kleine Partei, unzuverlässig, politischer Grundsätze bar,
die ihre Fühlung gar nicht nach der nationalen Seite sucht, außer wo sie
die dortigen Stimmen für ihre Zwecke braucht, die vielmehr ihre natürlichen
Anknüpfungspunkte in der großdeutschen Linken hat. wo es längst nicht an
Symptomen der Gegenneigung fehlt und wo z. B. Oesterlen ebenso gern
sich finden läßt, als er aufgesucht wird. Unter diesen Umständen ist es eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/536>, abgerufen am 06.02.2025.