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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Ich fühlte daS aber kaum, weil ich an meine Frau und an mein Kind dachte,
die mich mit der größten Unruhe erwarteten, da die Trennung schon 14 Tage
länger währte, als ausgemacht war. Erst am Abend machten wir Halt.
Der Steuermann versicherte mich, daß es im Dunkeln gefährlich sei durch
die vielen Klippen in die See zu laufen, daß wir mit Aufgang der Sonne in
einer Stunde aus dem Flusse heraus sein würden und dann die Segel auf.
ziehen könnten. -- Mir schien der Abend genügend hell zu sein, der Mond
stand in seinem ersten Viertel und leuchtete genugsam; aber was konnte ich mit
meinem beschädigten Fuße und zwei erschöpften Soldaten thun? unbekannt mit
der Schifffahrt, mit dem Strome und seinen Windungen mußte ich warten.
Ich hüllte mich in meinen Mantel, streckte mich nieder, hörte, wie mein
Reisegefährte im Tarantaß meine Begleiter über mich ausfragte, und schlief ein.

Als ich anderen Morgens aufwachte, sah ich die Ufer des Flusses nur
noch von fern; wir waren auf der See, die Segel waren aufgezogen, der
Wind wurde aber mit jeder Minute schwächer; endlich blieben die Segel
hängen, der eiserne Wimpel kreischte auf der Stange, bewegte sich nach allen
Richtungen, stand zuletzt unbeweglich still und wir blieben ungefähr 20 Werst
vor der Mündung der Selenga liegen. Man kann sich meine Ungeduld und
Verzweiflung vorstellen; die Fischer legten sich schlafen und sagten: "Kommen
wir nicht heute, so kommen wir doch morgen an". -- Ich hatte Zeit genug,
den Baikal zu studiren: seine Ufer sind steil, hoch und meist wellenförmig,
hie und da schroffe, nackte Felsen aus Granit, Kiesel- und Feuerstein, da¬
zwischen grüner Rasen, wenig Wald. Ueberall machen sich vulcanische Wirkungen
geltend und man kann annehmen, daß die Selenga. der Baikalsee und die
Angora in früherer Zeit einen einzigen Fluß bildeten. An einigen Punkten
ist der See grundlos. Auf der Stelle, wo die Angora aus dem Baikalsee
hinausfließt, stehen in der Mitte zwei Granitblöcke, welche als Schleusen
dienen; neben diesen Steinmassen zur Seeseite ist die Spur der vulcanischen
Einwirkungen deutlich wahrnehmbar. -- Allmälig wurden die Schmerzen meines
beschädigten Fußes unerträglich, ich befeuchtete ihn fortwährend mit Wasser
und bat die Fischer, sie möchten für Zahlung meine Begleiter beköstigen; sie
hatten Lebensmittel aus sieben Tage, ohne solchen Vorrath schiffen sie sich nie
auf dem Baikal ein, da dieser höchst unzuverlässig ist.

So lagen wir zwei Tage mitten auf dem See; am dritten Tage erhob
sich ein Sturm. Die Barke schaukelte, am Anker befestigt, wie eine Wiege
von ungeduldiger Hand bewegt. Der Wind war immer conträr; meine Lage
wurde immer unerträglicher. Wir wurden Tag und Nacht geschaukelt;
meine Augen waren durch das Zurückprallen der Sonnenstrahlen auf der
Wasserfläche und durch den Wind stark entzündet; ich konnte nur einige Zei¬
len aus Göthe's Genius lesen, der sich zufällig in meiner Tasche befand.


Ich fühlte daS aber kaum, weil ich an meine Frau und an mein Kind dachte,
die mich mit der größten Unruhe erwarteten, da die Trennung schon 14 Tage
länger währte, als ausgemacht war. Erst am Abend machten wir Halt.
Der Steuermann versicherte mich, daß es im Dunkeln gefährlich sei durch
die vielen Klippen in die See zu laufen, daß wir mit Aufgang der Sonne in
einer Stunde aus dem Flusse heraus sein würden und dann die Segel auf.
ziehen könnten. — Mir schien der Abend genügend hell zu sein, der Mond
stand in seinem ersten Viertel und leuchtete genugsam; aber was konnte ich mit
meinem beschädigten Fuße und zwei erschöpften Soldaten thun? unbekannt mit
der Schifffahrt, mit dem Strome und seinen Windungen mußte ich warten.
Ich hüllte mich in meinen Mantel, streckte mich nieder, hörte, wie mein
Reisegefährte im Tarantaß meine Begleiter über mich ausfragte, und schlief ein.

Als ich anderen Morgens aufwachte, sah ich die Ufer des Flusses nur
noch von fern; wir waren auf der See, die Segel waren aufgezogen, der
Wind wurde aber mit jeder Minute schwächer; endlich blieben die Segel
hängen, der eiserne Wimpel kreischte auf der Stange, bewegte sich nach allen
Richtungen, stand zuletzt unbeweglich still und wir blieben ungefähr 20 Werst
vor der Mündung der Selenga liegen. Man kann sich meine Ungeduld und
Verzweiflung vorstellen; die Fischer legten sich schlafen und sagten: „Kommen
wir nicht heute, so kommen wir doch morgen an". — Ich hatte Zeit genug,
den Baikal zu studiren: seine Ufer sind steil, hoch und meist wellenförmig,
hie und da schroffe, nackte Felsen aus Granit, Kiesel- und Feuerstein, da¬
zwischen grüner Rasen, wenig Wald. Ueberall machen sich vulcanische Wirkungen
geltend und man kann annehmen, daß die Selenga. der Baikalsee und die
Angora in früherer Zeit einen einzigen Fluß bildeten. An einigen Punkten
ist der See grundlos. Auf der Stelle, wo die Angora aus dem Baikalsee
hinausfließt, stehen in der Mitte zwei Granitblöcke, welche als Schleusen
dienen; neben diesen Steinmassen zur Seeseite ist die Spur der vulcanischen
Einwirkungen deutlich wahrnehmbar. — Allmälig wurden die Schmerzen meines
beschädigten Fußes unerträglich, ich befeuchtete ihn fortwährend mit Wasser
und bat die Fischer, sie möchten für Zahlung meine Begleiter beköstigen; sie
hatten Lebensmittel aus sieben Tage, ohne solchen Vorrath schiffen sie sich nie
auf dem Baikal ein, da dieser höchst unzuverlässig ist.

So lagen wir zwei Tage mitten auf dem See; am dritten Tage erhob
sich ein Sturm. Die Barke schaukelte, am Anker befestigt, wie eine Wiege
von ungeduldiger Hand bewegt. Der Wind war immer conträr; meine Lage
wurde immer unerträglicher. Wir wurden Tag und Nacht geschaukelt;
meine Augen waren durch das Zurückprallen der Sonnenstrahlen auf der
Wasserfläche und durch den Wind stark entzündet; ich konnte nur einige Zei¬
len aus Göthe's Genius lesen, der sich zufällig in meiner Tasche befand.


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[0459] Ich fühlte daS aber kaum, weil ich an meine Frau und an mein Kind dachte, die mich mit der größten Unruhe erwarteten, da die Trennung schon 14 Tage länger währte, als ausgemacht war. Erst am Abend machten wir Halt. Der Steuermann versicherte mich, daß es im Dunkeln gefährlich sei durch die vielen Klippen in die See zu laufen, daß wir mit Aufgang der Sonne in einer Stunde aus dem Flusse heraus sein würden und dann die Segel auf. ziehen könnten. — Mir schien der Abend genügend hell zu sein, der Mond stand in seinem ersten Viertel und leuchtete genugsam; aber was konnte ich mit meinem beschädigten Fuße und zwei erschöpften Soldaten thun? unbekannt mit der Schifffahrt, mit dem Strome und seinen Windungen mußte ich warten. Ich hüllte mich in meinen Mantel, streckte mich nieder, hörte, wie mein Reisegefährte im Tarantaß meine Begleiter über mich ausfragte, und schlief ein. Als ich anderen Morgens aufwachte, sah ich die Ufer des Flusses nur noch von fern; wir waren auf der See, die Segel waren aufgezogen, der Wind wurde aber mit jeder Minute schwächer; endlich blieben die Segel hängen, der eiserne Wimpel kreischte auf der Stange, bewegte sich nach allen Richtungen, stand zuletzt unbeweglich still und wir blieben ungefähr 20 Werst vor der Mündung der Selenga liegen. Man kann sich meine Ungeduld und Verzweiflung vorstellen; die Fischer legten sich schlafen und sagten: „Kommen wir nicht heute, so kommen wir doch morgen an". — Ich hatte Zeit genug, den Baikal zu studiren: seine Ufer sind steil, hoch und meist wellenförmig, hie und da schroffe, nackte Felsen aus Granit, Kiesel- und Feuerstein, da¬ zwischen grüner Rasen, wenig Wald. Ueberall machen sich vulcanische Wirkungen geltend und man kann annehmen, daß die Selenga. der Baikalsee und die Angora in früherer Zeit einen einzigen Fluß bildeten. An einigen Punkten ist der See grundlos. Auf der Stelle, wo die Angora aus dem Baikalsee hinausfließt, stehen in der Mitte zwei Granitblöcke, welche als Schleusen dienen; neben diesen Steinmassen zur Seeseite ist die Spur der vulcanischen Einwirkungen deutlich wahrnehmbar. — Allmälig wurden die Schmerzen meines beschädigten Fußes unerträglich, ich befeuchtete ihn fortwährend mit Wasser und bat die Fischer, sie möchten für Zahlung meine Begleiter beköstigen; sie hatten Lebensmittel aus sieben Tage, ohne solchen Vorrath schiffen sie sich nie auf dem Baikal ein, da dieser höchst unzuverlässig ist. So lagen wir zwei Tage mitten auf dem See; am dritten Tage erhob sich ein Sturm. Die Barke schaukelte, am Anker befestigt, wie eine Wiege von ungeduldiger Hand bewegt. Der Wind war immer conträr; meine Lage wurde immer unerträglicher. Wir wurden Tag und Nacht geschaukelt; meine Augen waren durch das Zurückprallen der Sonnenstrahlen auf der Wasserfläche und durch den Wind stark entzündet; ich konnte nur einige Zei¬ len aus Göthe's Genius lesen, der sich zufällig in meiner Tasche befand.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/459>, abgerufen am 06.02.2025.