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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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mächtig ist, und Löwe von der londoner Universität, weil er ein radikales
Programm für die Erziehungsreform aufgestellt.

Disraeli macht sich selbst keine Illusion mehr über seine Niederlage:
seine Wahlrede in Buckinghamshire, eine der wenigen unciffectirten und
Würdigen Reden die er gehalten, ist mehr die Apologie eines Ministers der
sich zurückziehen muß, als das Programm eines Führers der sich zu behaupten
gedenkt und die Verleihung des Titels einer "Vieountk-js ok Leaeonsüvlä"
an seine Gemahlin, da er selbst die Peerswürde abgelehnt, weil er noch
Führer der Opposition im Unterhaus zu bleiben gedenkt, ist offenbar ein
Zeichen der Sympathie seiner königlichen Gebieterin um ihn über die Nieder,
läge zu trösten.

aÄ 2) Die radicale Partei hat nicht nur keine Fortschritte gemacht, son¬
dern eine Niederlage erlitten, welche unsere Voraussicht weit übertroffen;
nicht blos ist kein einziger Arbeitercandidat gewählt, nicht blos sind die Führer
der Reformliga, Beates, Bradlaugh, E. Jones u. s. w. durchgefallen, sondern
mehrere hervorragende Radicale, vor allem Mill, haben ihre Sitze verloren.
Daß kein Arbeiter gewählt wurde, ist in mancher Hinsicht zu bedauern; ein
befähigter Vertreter des Standes wäre wahrscheinlich instructiver zu hören
gewesen, als die Theoretiker, die bisher für die Interessen der Arbeiter oft
ziemlich sentimental plaidirt haben. Aber daß die Arbeitercanditaten nirgends
durchgedrungen, daß auch in Chelsea Odger sich vor einem Baronet zurück¬
ziehen mußte, bleibt doch sehr charakteristisch für das große Publicum, welches
offenbar noch dem Vorurtheil huldigt, daß ein unabhängiger Gentleman
besser zum Vertreter geeignet sei, als ein Mann, der auf seiner Hände Arbeit
angewiesen ist. Am merkwürdigsten ist, daß in den schottischen Städten, welche
durchweg liberal gewählt haben und durchschnittlich wohl die gebildetsten
Arbeiter im Königreich haben, nicht einmal ein Candidat des Standes aus¬
gestellt ihl.

Im Gegentheil erklärte das bedeutendste schottische Blatt, der Scots-
Man: "Es ist ein principieller Trugschluß anzunehmen, daß, um die poli¬
tischen Ansichten dieses Landes zu repräsentiren. nothwendig sei, Vertreter
einer besonderen Classe zu wählen und es ist ein thatsächlicher Irrthum an¬
zunehmen, daß es thunlich sei, Personen, welche für ihr tägliches Brod von
ihrer täglichen Arbeit abhängen, zu Gesetzgebern zu wählen/' Ob dies die
herrschende Stimmung bleiben wird, wenn andere Fragen die Arbeitermassen
bewegen werden, ist allerdings abzuwarten, augenblicklich herrscht sie un¬
leugbar. Noch mehr für die Gesundheit des öffentlichen Urtheils beweist es,
daß keiner der Führer der Liga gewählt ist; die Arbeiter mögen den rich-
ttgen Jnstinct gehabt haben, daß solche Demagogen gut genug als Agita¬
toren, aber nicht in der verantwortlichen Stellung von Volksvertretern zu


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mächtig ist, und Löwe von der londoner Universität, weil er ein radikales
Programm für die Erziehungsreform aufgestellt.

Disraeli macht sich selbst keine Illusion mehr über seine Niederlage:
seine Wahlrede in Buckinghamshire, eine der wenigen unciffectirten und
Würdigen Reden die er gehalten, ist mehr die Apologie eines Ministers der
sich zurückziehen muß, als das Programm eines Führers der sich zu behaupten
gedenkt und die Verleihung des Titels einer „Vieountk-js ok Leaeonsüvlä"
an seine Gemahlin, da er selbst die Peerswürde abgelehnt, weil er noch
Führer der Opposition im Unterhaus zu bleiben gedenkt, ist offenbar ein
Zeichen der Sympathie seiner königlichen Gebieterin um ihn über die Nieder,
läge zu trösten.

aÄ 2) Die radicale Partei hat nicht nur keine Fortschritte gemacht, son¬
dern eine Niederlage erlitten, welche unsere Voraussicht weit übertroffen;
nicht blos ist kein einziger Arbeitercandidat gewählt, nicht blos sind die Führer
der Reformliga, Beates, Bradlaugh, E. Jones u. s. w. durchgefallen, sondern
mehrere hervorragende Radicale, vor allem Mill, haben ihre Sitze verloren.
Daß kein Arbeiter gewählt wurde, ist in mancher Hinsicht zu bedauern; ein
befähigter Vertreter des Standes wäre wahrscheinlich instructiver zu hören
gewesen, als die Theoretiker, die bisher für die Interessen der Arbeiter oft
ziemlich sentimental plaidirt haben. Aber daß die Arbeitercanditaten nirgends
durchgedrungen, daß auch in Chelsea Odger sich vor einem Baronet zurück¬
ziehen mußte, bleibt doch sehr charakteristisch für das große Publicum, welches
offenbar noch dem Vorurtheil huldigt, daß ein unabhängiger Gentleman
besser zum Vertreter geeignet sei, als ein Mann, der auf seiner Hände Arbeit
angewiesen ist. Am merkwürdigsten ist, daß in den schottischen Städten, welche
durchweg liberal gewählt haben und durchschnittlich wohl die gebildetsten
Arbeiter im Königreich haben, nicht einmal ein Candidat des Standes aus¬
gestellt ihl.

Im Gegentheil erklärte das bedeutendste schottische Blatt, der Scots-
Man: „Es ist ein principieller Trugschluß anzunehmen, daß, um die poli¬
tischen Ansichten dieses Landes zu repräsentiren. nothwendig sei, Vertreter
einer besonderen Classe zu wählen und es ist ein thatsächlicher Irrthum an¬
zunehmen, daß es thunlich sei, Personen, welche für ihr tägliches Brod von
ihrer täglichen Arbeit abhängen, zu Gesetzgebern zu wählen/' Ob dies die
herrschende Stimmung bleiben wird, wenn andere Fragen die Arbeitermassen
bewegen werden, ist allerdings abzuwarten, augenblicklich herrscht sie un¬
leugbar. Noch mehr für die Gesundheit des öffentlichen Urtheils beweist es,
daß keiner der Führer der Liga gewählt ist; die Arbeiter mögen den rich-
ttgen Jnstinct gehabt haben, daß solche Demagogen gut genug als Agita¬
toren, aber nicht in der verantwortlichen Stellung von Volksvertretern zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/441>, abgerufen am 05.02.2025.