Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.Noth des vorigen Winters nur all zu lebhaft erinnerte, steht in Rußland Die officielle russische Politik, welche man in Wien und Paris haupt¬ Noth des vorigen Winters nur all zu lebhaft erinnerte, steht in Rußland Die officielle russische Politik, welche man in Wien und Paris haupt¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0422" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287694"/> <p xml:id="ID_1059" prev="#ID_1058"> Noth des vorigen Winters nur all zu lebhaft erinnerte, steht in Rußland<lb/> noch immer in Blüthe und ist durch die vielbesprochene letzte Tarifrevision<lb/> nicht verändert worden; Grenzverletzungen, wie sie längst herkömmlich ge¬<lb/> worden, haben auch in der Neuzeit nicht gefehlt, und die gegen die Ostsee¬<lb/> provinzen und gegen Polen geübte innere Politik hat sicher nicht dazu<lb/> beigetragen, die russischen Sympathien in Preußen zu verstärken. In Ru߬<lb/> land selbst und namentlich in den Kreisen der nichtofficiellen Politiker scheint<lb/> man eine lebhafte Empfindung davon zu haben, daß trotz der freundschaft¬<lb/> lichen Beziehungen zwischen den Regierungen der beiden nordischen Großmächte<lb/> eine Fortdauer des gegenwärtigen Verhältnisses nicht für alle Zeiten mög¬<lb/> lich sein werde. Die nationale Partei wünscht sich wirthschaftlich noch un¬<lb/> abhängiger von den preußischen Nachbarn zu machen und namentlich das<lb/> Band zu lösen, durch welches die westrussische Ausfuhr an unsere Ostsee¬<lb/> häfen geknüpft ist. Dem „abnormen" Zustande, daß Königsberg und Memel<lb/> die gesammte Produktion Polens und Lithauens ausführen und daß eine<lb/> Sperrung dieser Häfen mit dem Stocken alles wtrthschaftlichen Lebens an<lb/> dem Njemen und der Weichsel gleichbedeutend sein würde, soll plötzlich und<lb/> gewaltsam ein Ende gemacht werden. Seit Monaten bringt die einflußreiche<lb/> Most. Zeitung wöchentlich mehrere Artikel über diesen Gegenstand und jeder<lb/> derselben schließt mit der peremptorischen Forderung, Kowno mit der ir¬<lb/> ländischen Hafenstadt Libau zu verbinden und diese an die Stelle der preußi¬<lb/> schen Rivalen zu setzen. Wo möglich soll außerdem das benachbarte Windau<lb/> in einen starken Kriegshafen verwandelt werden. Da gleichzeitig von derselben<lb/> Partei dagegen agitirt wird, den russischen Westen durch neue Eisenbahnen<lb/> mit unserem Osten zu verbinden und das Bestreben, Libau zum Mittelpunkt<lb/> des baltischen Exports zu machen, ebenso gegen Riga wie gegen die preußi¬<lb/> schen Häfen gerichtet ist, hat das bezügliche Project mit vielfachen Schwie¬<lb/> rigkeiten zu kämpfen. Immerhin ist seine Realistrung höchst wahrscheinlich;<lb/> seine Bedeutung für Preußen läßt sich ebenso an dem Eifer bemessen, mit<lb/> dem es seitens der Stettiner Ostseezeitung bekämpft wird, wie an den Be¬<lb/> fürchtungen der russischen Presse vor „preußischen Intriguen". Kommt die<lb/> Cartellconvention im Abgeordnetenhause zur Sprache, so wird wohl auch<lb/> dieser Punkt eingehend erörtert werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1060" next="#ID_1061"> Die officielle russische Politik, welche man in Wien und Paris haupt¬<lb/> sächlich im Orient beschäftigt glaubt, hat thatsächlich alle Hände voll mit in-<lb/> neren Fragen zu thun. In nicht weniger als 11 Provinzen steht, nach einer<lb/> amtlichen Bekanntmachung des Ministers des Innern, auch für dieses Jahr<lb/> bittere Noth zu erwarten und an Nachzüglern aus anderen Reichstheilen<lb/> wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht fehlen. Schon gegenwärtig ist<lb/> Petersburg mit Bettlerschaaren aus dem hungernden Westen und Südwesten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0422]
Noth des vorigen Winters nur all zu lebhaft erinnerte, steht in Rußland
noch immer in Blüthe und ist durch die vielbesprochene letzte Tarifrevision
nicht verändert worden; Grenzverletzungen, wie sie längst herkömmlich ge¬
worden, haben auch in der Neuzeit nicht gefehlt, und die gegen die Ostsee¬
provinzen und gegen Polen geübte innere Politik hat sicher nicht dazu
beigetragen, die russischen Sympathien in Preußen zu verstärken. In Ru߬
land selbst und namentlich in den Kreisen der nichtofficiellen Politiker scheint
man eine lebhafte Empfindung davon zu haben, daß trotz der freundschaft¬
lichen Beziehungen zwischen den Regierungen der beiden nordischen Großmächte
eine Fortdauer des gegenwärtigen Verhältnisses nicht für alle Zeiten mög¬
lich sein werde. Die nationale Partei wünscht sich wirthschaftlich noch un¬
abhängiger von den preußischen Nachbarn zu machen und namentlich das
Band zu lösen, durch welches die westrussische Ausfuhr an unsere Ostsee¬
häfen geknüpft ist. Dem „abnormen" Zustande, daß Königsberg und Memel
die gesammte Produktion Polens und Lithauens ausführen und daß eine
Sperrung dieser Häfen mit dem Stocken alles wtrthschaftlichen Lebens an
dem Njemen und der Weichsel gleichbedeutend sein würde, soll plötzlich und
gewaltsam ein Ende gemacht werden. Seit Monaten bringt die einflußreiche
Most. Zeitung wöchentlich mehrere Artikel über diesen Gegenstand und jeder
derselben schließt mit der peremptorischen Forderung, Kowno mit der ir¬
ländischen Hafenstadt Libau zu verbinden und diese an die Stelle der preußi¬
schen Rivalen zu setzen. Wo möglich soll außerdem das benachbarte Windau
in einen starken Kriegshafen verwandelt werden. Da gleichzeitig von derselben
Partei dagegen agitirt wird, den russischen Westen durch neue Eisenbahnen
mit unserem Osten zu verbinden und das Bestreben, Libau zum Mittelpunkt
des baltischen Exports zu machen, ebenso gegen Riga wie gegen die preußi¬
schen Häfen gerichtet ist, hat das bezügliche Project mit vielfachen Schwie¬
rigkeiten zu kämpfen. Immerhin ist seine Realistrung höchst wahrscheinlich;
seine Bedeutung für Preußen läßt sich ebenso an dem Eifer bemessen, mit
dem es seitens der Stettiner Ostseezeitung bekämpft wird, wie an den Be¬
fürchtungen der russischen Presse vor „preußischen Intriguen". Kommt die
Cartellconvention im Abgeordnetenhause zur Sprache, so wird wohl auch
dieser Punkt eingehend erörtert werden.
Die officielle russische Politik, welche man in Wien und Paris haupt¬
sächlich im Orient beschäftigt glaubt, hat thatsächlich alle Hände voll mit in-
neren Fragen zu thun. In nicht weniger als 11 Provinzen steht, nach einer
amtlichen Bekanntmachung des Ministers des Innern, auch für dieses Jahr
bittere Noth zu erwarten und an Nachzüglern aus anderen Reichstheilen
wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht fehlen. Schon gegenwärtig ist
Petersburg mit Bettlerschaaren aus dem hungernden Westen und Südwesten
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