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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Attractionskraft nicht gemindert werde. Und eine Entscheidung in Frank¬
reich scheint weiter als jemals auszustehen; die letzten vier Wochen französi¬
schen Staatslebens haben die Regierung in eine Reihe von Verwickelungen
gestürzt, deren Ende sich absolut nicht absehen läßt. Die Entschiedenheit,
mit welcher der Kaiser sich gegen des vielgewandten aber charakterlosen
Rouher Rath in der Baudinangelegenheit für eine RePression im brutalsten
Sinne des Worts entschieden hat, bestätigt, daß die Elasticität des französischen
Herrschers in der That abnimmt und derselbe in der Vertheidigung seines
bisherigen Systems das einzige Heil sieht. Ohne Rücksicht auf die bevor¬
stehende Neuwahl zum gesetzgebenden Körper und die Warnungen unab¬
hängiger Freunde hat die Regierung die Zügel so scharf anzuziehen begonnen,
als stünde das französische Volk noch unter dem Einfluß der Gesellschafts¬
rettung von 1861 und als hänge es nur von ihrem Willen ab, daß die
Tage des Generals Espinasse wiederkehren. Im eigentlichsten Sinne des
Worts wird von der Hand in den Mund gelebt und krampfhaft an einem
Negierungsapparat festgehalten, der sich schon seit Jahr und Tag als ver¬
braucht ausgewiesen hat. Von den jüngeren Kräften, die sich seit dem letzten
Jahrzehnt geltend gemacht haben, ist nicht eine von Bedeutung in den
Dienst des zweiten Kaiserreichs gezogen worden; die Bureaus wie die offi¬
ziösen Preßstellen werden von Leuten bedient, welche niemals mit dem seit
1861 erwachsenen Geschlecht Fühlung gehabt haben. Und dieses jüngere Ge¬
schlecht ist unter Eindrücken aufgewachsen, die mit denen der vorigen Gene¬
ration so gut wie Nichts gemein haben; die Erfahrungen, welche die Ma¬
jorität von 1861 dem Kaiserthum^ als der einzigen Rettung vor dem rothen
Gespenst in die Arme trieben, fehlen den Altersclassen, welche unter der Po¬
lizeifuchtel groß wurden und die Erinnerungen von 1830 und 1848 nicht
nach ihrer erschreckenden, sondern nur nach ihrer rosigen Seite kennen. Die
Art und Weise, wie die letzte spanische Revolution in Paris aufgenommen
worden, beweist deutlich, wie gründlich der Wind umgeschlagen hat und daß
die Revolutionsfurcht nicht mehr das leitende Motiv der französischen Gesell¬
schaft ist. In früheren Jahren wäre eine Umwälzung dieser Art der Re¬
gierung zu Gute gekommen; heute ist dieselbe dem Kaiserreich zu einer neuen
Verlegenheit geworden. Unterstützt wird die allgemeine Unzufriedenheit mit
dem herrschenden politischen System noch durch den Zusammensturz des
wirthschaftlich-financiellen. Inmitten des Baudin-Lärms ist das traurige
Resultat der letzten Versammlung des Oreäit immobil-'"!- ziemlich lautlos ver¬
hallt, aber für die Leute, welche sich nicht mit Politik beschäftigen, so lange
sie ruhig von ihren Renten leben können, spielt der Bankerott der unter
kaiserlicher Aegide gebildeten Finanzgesellschaften die Rolle eines zweiten
Mexico, einer Niederlage die sich an jedem Ultimo und jedem Quartalschluß


Attractionskraft nicht gemindert werde. Und eine Entscheidung in Frank¬
reich scheint weiter als jemals auszustehen; die letzten vier Wochen französi¬
schen Staatslebens haben die Regierung in eine Reihe von Verwickelungen
gestürzt, deren Ende sich absolut nicht absehen läßt. Die Entschiedenheit,
mit welcher der Kaiser sich gegen des vielgewandten aber charakterlosen
Rouher Rath in der Baudinangelegenheit für eine RePression im brutalsten
Sinne des Worts entschieden hat, bestätigt, daß die Elasticität des französischen
Herrschers in der That abnimmt und derselbe in der Vertheidigung seines
bisherigen Systems das einzige Heil sieht. Ohne Rücksicht auf die bevor¬
stehende Neuwahl zum gesetzgebenden Körper und die Warnungen unab¬
hängiger Freunde hat die Regierung die Zügel so scharf anzuziehen begonnen,
als stünde das französische Volk noch unter dem Einfluß der Gesellschafts¬
rettung von 1861 und als hänge es nur von ihrem Willen ab, daß die
Tage des Generals Espinasse wiederkehren. Im eigentlichsten Sinne des
Worts wird von der Hand in den Mund gelebt und krampfhaft an einem
Negierungsapparat festgehalten, der sich schon seit Jahr und Tag als ver¬
braucht ausgewiesen hat. Von den jüngeren Kräften, die sich seit dem letzten
Jahrzehnt geltend gemacht haben, ist nicht eine von Bedeutung in den
Dienst des zweiten Kaiserreichs gezogen worden; die Bureaus wie die offi¬
ziösen Preßstellen werden von Leuten bedient, welche niemals mit dem seit
1861 erwachsenen Geschlecht Fühlung gehabt haben. Und dieses jüngere Ge¬
schlecht ist unter Eindrücken aufgewachsen, die mit denen der vorigen Gene¬
ration so gut wie Nichts gemein haben; die Erfahrungen, welche die Ma¬
jorität von 1861 dem Kaiserthum^ als der einzigen Rettung vor dem rothen
Gespenst in die Arme trieben, fehlen den Altersclassen, welche unter der Po¬
lizeifuchtel groß wurden und die Erinnerungen von 1830 und 1848 nicht
nach ihrer erschreckenden, sondern nur nach ihrer rosigen Seite kennen. Die
Art und Weise, wie die letzte spanische Revolution in Paris aufgenommen
worden, beweist deutlich, wie gründlich der Wind umgeschlagen hat und daß
die Revolutionsfurcht nicht mehr das leitende Motiv der französischen Gesell¬
schaft ist. In früheren Jahren wäre eine Umwälzung dieser Art der Re¬
gierung zu Gute gekommen; heute ist dieselbe dem Kaiserreich zu einer neuen
Verlegenheit geworden. Unterstützt wird die allgemeine Unzufriedenheit mit
dem herrschenden politischen System noch durch den Zusammensturz des
wirthschaftlich-financiellen. Inmitten des Baudin-Lärms ist das traurige
Resultat der letzten Versammlung des Oreäit immobil-'"!- ziemlich lautlos ver¬
hallt, aber für die Leute, welche sich nicht mit Politik beschäftigen, so lange
sie ruhig von ihren Renten leben können, spielt der Bankerott der unter
kaiserlicher Aegide gebildeten Finanzgesellschaften die Rolle eines zweiten
Mexico, einer Niederlage die sich an jedem Ultimo und jedem Quartalschluß


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[0419] Attractionskraft nicht gemindert werde. Und eine Entscheidung in Frank¬ reich scheint weiter als jemals auszustehen; die letzten vier Wochen französi¬ schen Staatslebens haben die Regierung in eine Reihe von Verwickelungen gestürzt, deren Ende sich absolut nicht absehen läßt. Die Entschiedenheit, mit welcher der Kaiser sich gegen des vielgewandten aber charakterlosen Rouher Rath in der Baudinangelegenheit für eine RePression im brutalsten Sinne des Worts entschieden hat, bestätigt, daß die Elasticität des französischen Herrschers in der That abnimmt und derselbe in der Vertheidigung seines bisherigen Systems das einzige Heil sieht. Ohne Rücksicht auf die bevor¬ stehende Neuwahl zum gesetzgebenden Körper und die Warnungen unab¬ hängiger Freunde hat die Regierung die Zügel so scharf anzuziehen begonnen, als stünde das französische Volk noch unter dem Einfluß der Gesellschafts¬ rettung von 1861 und als hänge es nur von ihrem Willen ab, daß die Tage des Generals Espinasse wiederkehren. Im eigentlichsten Sinne des Worts wird von der Hand in den Mund gelebt und krampfhaft an einem Negierungsapparat festgehalten, der sich schon seit Jahr und Tag als ver¬ braucht ausgewiesen hat. Von den jüngeren Kräften, die sich seit dem letzten Jahrzehnt geltend gemacht haben, ist nicht eine von Bedeutung in den Dienst des zweiten Kaiserreichs gezogen worden; die Bureaus wie die offi¬ ziösen Preßstellen werden von Leuten bedient, welche niemals mit dem seit 1861 erwachsenen Geschlecht Fühlung gehabt haben. Und dieses jüngere Ge¬ schlecht ist unter Eindrücken aufgewachsen, die mit denen der vorigen Gene¬ ration so gut wie Nichts gemein haben; die Erfahrungen, welche die Ma¬ jorität von 1861 dem Kaiserthum^ als der einzigen Rettung vor dem rothen Gespenst in die Arme trieben, fehlen den Altersclassen, welche unter der Po¬ lizeifuchtel groß wurden und die Erinnerungen von 1830 und 1848 nicht nach ihrer erschreckenden, sondern nur nach ihrer rosigen Seite kennen. Die Art und Weise, wie die letzte spanische Revolution in Paris aufgenommen worden, beweist deutlich, wie gründlich der Wind umgeschlagen hat und daß die Revolutionsfurcht nicht mehr das leitende Motiv der französischen Gesell¬ schaft ist. In früheren Jahren wäre eine Umwälzung dieser Art der Re¬ gierung zu Gute gekommen; heute ist dieselbe dem Kaiserreich zu einer neuen Verlegenheit geworden. Unterstützt wird die allgemeine Unzufriedenheit mit dem herrschenden politischen System noch durch den Zusammensturz des wirthschaftlich-financiellen. Inmitten des Baudin-Lärms ist das traurige Resultat der letzten Versammlung des Oreäit immobil-'"!- ziemlich lautlos ver¬ hallt, aber für die Leute, welche sich nicht mit Politik beschäftigen, so lange sie ruhig von ihren Renten leben können, spielt der Bankerott der unter kaiserlicher Aegide gebildeten Finanzgesellschaften die Rolle eines zweiten Mexico, einer Niederlage die sich an jedem Ultimo und jedem Quartalschluß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/419>, abgerufen am 07.02.2025.