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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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der Weg eine Werst weit zu übersehen war; erst am Fuß des Berges zeigte
sich dann seitwärts ein Engpaß, durch den man wieder ein neues Thalsehen
konnte. Rechts und links sah man Tabunen (Pferdeheerden) weiden, größten¬
teils ausweißen und grauen kleinen Pferden bestehend; die Hüter mit Flinte
und Bogen bewaffnet waren gleichfalls beritten und führten zweiräderige
Fuhrwerke.mit Filzzelten, in denen ihre Weiber und Kinder saßen, mit sich.
Die nomadischen Burjäten nähren sich von Jagd, Fischfang und vom Aas
gefallener Thiere. Diese Nachkommen der Mongolen haben ebenso wenig
Bedürfnisse wie ihre Vorfahren aus der Zeit Tschingis-Chans, der mit um
zähligen Heerschaaren ungeheuere Märsche durch Wüsteneien ohne Vorraths¬
magazine unternehmen konnte. Unsere burjätischen Begleiter und Fuhrleute
führten weder Brod noch andere Mundvorräthe mit sich; sie entfernten sich
abwechselnd in Partien zwei Mal täglich aus dem Lager und hielten sich dann
eine halbe Stunde im Walde auf, um daselbst ihren Hunger mit Strickbeeren zu
stillen. Allmälig näherten sie sich uns; Einige unter ihnen sprachen russisch, und
dienten den Anderen als Dragomans, die sie tolmatsed (Dolmetscher) hießen.
Regelmäßig versammelte eine Gruppe sich um den Tisch, an welchem Tru-
betzkoy und Wadkowsky Schach spielten; diese Zuschauer gaben durch Aus¬
rufungen und Beifallszeichen zu verstehen, daß sie dieses Spiel genau kannten.
Einem von ihnen wurde eine Partie angeboten: er schlug unsere besten
Spieler und erklärte, daß dieses Spiel den Burjäten schon längst bekannt
gewesen und aus China überkommen sei.

Die Neugierde dieser Nomaden wurde am meisten durch meinen Kame¬
raden M. S> Lunin erregt: seine Wunden hatten ihm die Erlaubniß ver¬
schafft, in einem Fuhrwerke zu fahren, welches er mit Wachstuch verdecken
ließ; er schlief auch des Nachts darin und verließ es nie am Tage. Mehrere
Tagemarsche nach einander, sobald wir zum Nachtlager oder zum Rasttage
anhielten, war sein Fuhrwerk von einem Burjätenhaufen umringt, der un¬
geduldig erwartete, daß der Gefangene sich zeigte; aber die Vorhänge aus
Wachstuch blieben fest zugeschnallt, der geheimnißvolle Mann, in welchem
sie den Hauptverbrecher zu erkennen glaubten, war unsichtbar. Endlich fiel
es ihm ein, herauszutreten und nach ihrem Begehr zu fragen. Der Dol¬
metscher erklärte im Namen der Zuschauer, daß sie ihn zu sehen und zu er¬
fahren wünschten, weshalb er eigentlich nach sibir'-n verschickt sei. --
"Kennt ihr Euern Taischa?" -- Taischa ist der höchste Rang, der Titel des
Oberhaupts der Burjäten.. "Wir kennen ihn." "Kennt ihr aber auch den
Taischa, der über euerm Taischa steht, ihn in mein Fuhrwerk setzen und ihm
den I)Mi (Garaus) machen kann?" -- "Ja, wir haben von ihm gehört." --
"Nun, ich wollte seiner Macht uZei machen, dafür bin ich verschickt." --
"Ho! ho! ho!" hallte es in der bewundernden Schaar, und mit tiefen


der Weg eine Werst weit zu übersehen war; erst am Fuß des Berges zeigte
sich dann seitwärts ein Engpaß, durch den man wieder ein neues Thalsehen
konnte. Rechts und links sah man Tabunen (Pferdeheerden) weiden, größten¬
teils ausweißen und grauen kleinen Pferden bestehend; die Hüter mit Flinte
und Bogen bewaffnet waren gleichfalls beritten und führten zweiräderige
Fuhrwerke.mit Filzzelten, in denen ihre Weiber und Kinder saßen, mit sich.
Die nomadischen Burjäten nähren sich von Jagd, Fischfang und vom Aas
gefallener Thiere. Diese Nachkommen der Mongolen haben ebenso wenig
Bedürfnisse wie ihre Vorfahren aus der Zeit Tschingis-Chans, der mit um
zähligen Heerschaaren ungeheuere Märsche durch Wüsteneien ohne Vorraths¬
magazine unternehmen konnte. Unsere burjätischen Begleiter und Fuhrleute
führten weder Brod noch andere Mundvorräthe mit sich; sie entfernten sich
abwechselnd in Partien zwei Mal täglich aus dem Lager und hielten sich dann
eine halbe Stunde im Walde auf, um daselbst ihren Hunger mit Strickbeeren zu
stillen. Allmälig näherten sie sich uns; Einige unter ihnen sprachen russisch, und
dienten den Anderen als Dragomans, die sie tolmatsed (Dolmetscher) hießen.
Regelmäßig versammelte eine Gruppe sich um den Tisch, an welchem Tru-
betzkoy und Wadkowsky Schach spielten; diese Zuschauer gaben durch Aus¬
rufungen und Beifallszeichen zu verstehen, daß sie dieses Spiel genau kannten.
Einem von ihnen wurde eine Partie angeboten: er schlug unsere besten
Spieler und erklärte, daß dieses Spiel den Burjäten schon längst bekannt
gewesen und aus China überkommen sei.

Die Neugierde dieser Nomaden wurde am meisten durch meinen Kame¬
raden M. S> Lunin erregt: seine Wunden hatten ihm die Erlaubniß ver¬
schafft, in einem Fuhrwerke zu fahren, welches er mit Wachstuch verdecken
ließ; er schlief auch des Nachts darin und verließ es nie am Tage. Mehrere
Tagemarsche nach einander, sobald wir zum Nachtlager oder zum Rasttage
anhielten, war sein Fuhrwerk von einem Burjätenhaufen umringt, der un¬
geduldig erwartete, daß der Gefangene sich zeigte; aber die Vorhänge aus
Wachstuch blieben fest zugeschnallt, der geheimnißvolle Mann, in welchem
sie den Hauptverbrecher zu erkennen glaubten, war unsichtbar. Endlich fiel
es ihm ein, herauszutreten und nach ihrem Begehr zu fragen. Der Dol¬
metscher erklärte im Namen der Zuschauer, daß sie ihn zu sehen und zu er¬
fahren wünschten, weshalb er eigentlich nach sibir'-n verschickt sei. —
»Kennt ihr Euern Taischa?" — Taischa ist der höchste Rang, der Titel des
Oberhaupts der Burjäten.. „Wir kennen ihn." „Kennt ihr aber auch den
Taischa, der über euerm Taischa steht, ihn in mein Fuhrwerk setzen und ihm
den I)Mi (Garaus) machen kann?" — „Ja, wir haben von ihm gehört." —
»Nun, ich wollte seiner Macht uZei machen, dafür bin ich verschickt." —
»Ho! ho! ho!" hallte es in der bewundernden Schaar, und mit tiefen


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[0369] der Weg eine Werst weit zu übersehen war; erst am Fuß des Berges zeigte sich dann seitwärts ein Engpaß, durch den man wieder ein neues Thalsehen konnte. Rechts und links sah man Tabunen (Pferdeheerden) weiden, größten¬ teils ausweißen und grauen kleinen Pferden bestehend; die Hüter mit Flinte und Bogen bewaffnet waren gleichfalls beritten und führten zweiräderige Fuhrwerke.mit Filzzelten, in denen ihre Weiber und Kinder saßen, mit sich. Die nomadischen Burjäten nähren sich von Jagd, Fischfang und vom Aas gefallener Thiere. Diese Nachkommen der Mongolen haben ebenso wenig Bedürfnisse wie ihre Vorfahren aus der Zeit Tschingis-Chans, der mit um zähligen Heerschaaren ungeheuere Märsche durch Wüsteneien ohne Vorraths¬ magazine unternehmen konnte. Unsere burjätischen Begleiter und Fuhrleute führten weder Brod noch andere Mundvorräthe mit sich; sie entfernten sich abwechselnd in Partien zwei Mal täglich aus dem Lager und hielten sich dann eine halbe Stunde im Walde auf, um daselbst ihren Hunger mit Strickbeeren zu stillen. Allmälig näherten sie sich uns; Einige unter ihnen sprachen russisch, und dienten den Anderen als Dragomans, die sie tolmatsed (Dolmetscher) hießen. Regelmäßig versammelte eine Gruppe sich um den Tisch, an welchem Tru- betzkoy und Wadkowsky Schach spielten; diese Zuschauer gaben durch Aus¬ rufungen und Beifallszeichen zu verstehen, daß sie dieses Spiel genau kannten. Einem von ihnen wurde eine Partie angeboten: er schlug unsere besten Spieler und erklärte, daß dieses Spiel den Burjäten schon längst bekannt gewesen und aus China überkommen sei. Die Neugierde dieser Nomaden wurde am meisten durch meinen Kame¬ raden M. S> Lunin erregt: seine Wunden hatten ihm die Erlaubniß ver¬ schafft, in einem Fuhrwerke zu fahren, welches er mit Wachstuch verdecken ließ; er schlief auch des Nachts darin und verließ es nie am Tage. Mehrere Tagemarsche nach einander, sobald wir zum Nachtlager oder zum Rasttage anhielten, war sein Fuhrwerk von einem Burjätenhaufen umringt, der un¬ geduldig erwartete, daß der Gefangene sich zeigte; aber die Vorhänge aus Wachstuch blieben fest zugeschnallt, der geheimnißvolle Mann, in welchem sie den Hauptverbrecher zu erkennen glaubten, war unsichtbar. Endlich fiel es ihm ein, herauszutreten und nach ihrem Begehr zu fragen. Der Dol¬ metscher erklärte im Namen der Zuschauer, daß sie ihn zu sehen und zu er¬ fahren wünschten, weshalb er eigentlich nach sibir'-n verschickt sei. — »Kennt ihr Euern Taischa?" — Taischa ist der höchste Rang, der Titel des Oberhaupts der Burjäten.. „Wir kennen ihn." „Kennt ihr aber auch den Taischa, der über euerm Taischa steht, ihn in mein Fuhrwerk setzen und ihm den I)Mi (Garaus) machen kann?" — „Ja, wir haben von ihm gehört." — »Nun, ich wollte seiner Macht uZei machen, dafür bin ich verschickt." — »Ho! ho! ho!" hallte es in der bewundernden Schaar, und mit tiefen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/369>, abgerufen am 05.02.2025.