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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Leute erhöht. Darüber ist natürlich große und berechtigte Klage; aber das
System selbst war so zweckmäßig, daß es wiederhergestellt werden muß,
die Gemeinde bekam dadurch sicher ihre Abgaben von zahlungsfähigen Leuten
und die kleinen Miether bezahlten weniger. Das neue Parlament wird also
sich sofort damit beschäftigen müssen diesem Uebelstand abzuhelfen. Hiervon
abgesehen besteht das Hauptergebniß der Bill darin, daß in der Mehrheit
der Wahlkörper den Classen die Majorität gegeben ist, welche fast aus¬
schließlich von ihrer Hände Arbeit leben. Dies Experiment ist durchaus neu
in der Geschichte; große Städte wie Rom und Paris haben zeitweilig unter
der Herrschaft der Massen gestanden, Frankreich. Rußland und die Vereinigten
Staaten sind Demokratien von Ackerbauern, aber die Idee, die Geschicke eines
großen Reiches in die Hand der ärmeren Bevölkerung der Städte zu legen,
ist noch nicht dagewesen. Für den Erfolg des Wagnisses kann man auch
keineswegs aus dem Ergebniß der Acte von 1832 schließen, diese verlegte
den Schwerpunkt der politischen Macht in die Mittelclassen; die unterste
Stufe der Wähler bestand aus kleinen Gewerbtreibenden, aber diese gehörten
doch wie die gesammte übrige Wählerschaft zu den Besitzenden und Arbeit¬
gebern. Jetzt aber hat man eine große Classe herangezogen, welche keinen
Besitz hat und von Andern Arbeit nimmt. Das ist ein unermeßlicher Unter¬
schied, welcher durch das ominöse Wort Lord Derby's bezeichnet wird, zu dem
er im Oberhause gedrängt ward: der Erfolg der Bill lasse sich nicht berechnen,
sondern nur hoffen; unzweifelhaft sei sie "ein Sprung ins Dunkle". Und
wenn es schon an sich gefährlich scheint, denen die größte Macht zu geben,
die am wenigsten Einsicht und am wenigsten zu -verlieren haben, so ist es
besonders gefährlich in England, wo diesen städtischen Massen gegenüber das
Gegengewicht eines zahlreichen Bauernstandes fehlt, welcher immer conservativ
gesinnt ist. Die Aeonen sind neben den Großgrundbesitzern ganz verschwunden;
es gibt außer den Letztern aus dem Lande fast nur noch Pächter und länd¬
liche Arbeiter, kein Boden ist also ungeeigneter für eine Demokratie als der
englische. Wie die Arbeiter das gegebene Geschenk brauchen, ist allerdings
abzuwarten, aber wir theilen vorläufig weder die macchiavellistischen Hoff-
nungen Disraeli's. noch die sanguinischen der Radtcalen. Die Rechnung des
erster" ist einfach die der Cäsaren und Oligarchen, sich auf die Massen gegen
die intelligente Mittelclasse zu stützen. Dies war schon in der Debatte im
Unterhause so deutlich, daß Mill ihm zurief: "Die Politik des sehr ehren-
werthen Herrn ist. unsere Institutionen zu reconstruiren auf dem Princip der
Demokratie geführt durch die Grundaristokratie, und seine Bill ist so schlau
ersonnen, daß sie einer großen Zahl abhängiger, aber nur einer kleinen Zahl
unabhängiger Arbeiter das Stimmrecht gibt, so daß der Einfluß der Retchen
nur gesteigert würde." Aber auch der jetzige Lordkanzler Lord Catrns gestand


Leute erhöht. Darüber ist natürlich große und berechtigte Klage; aber das
System selbst war so zweckmäßig, daß es wiederhergestellt werden muß,
die Gemeinde bekam dadurch sicher ihre Abgaben von zahlungsfähigen Leuten
und die kleinen Miether bezahlten weniger. Das neue Parlament wird also
sich sofort damit beschäftigen müssen diesem Uebelstand abzuhelfen. Hiervon
abgesehen besteht das Hauptergebniß der Bill darin, daß in der Mehrheit
der Wahlkörper den Classen die Majorität gegeben ist, welche fast aus¬
schließlich von ihrer Hände Arbeit leben. Dies Experiment ist durchaus neu
in der Geschichte; große Städte wie Rom und Paris haben zeitweilig unter
der Herrschaft der Massen gestanden, Frankreich. Rußland und die Vereinigten
Staaten sind Demokratien von Ackerbauern, aber die Idee, die Geschicke eines
großen Reiches in die Hand der ärmeren Bevölkerung der Städte zu legen,
ist noch nicht dagewesen. Für den Erfolg des Wagnisses kann man auch
keineswegs aus dem Ergebniß der Acte von 1832 schließen, diese verlegte
den Schwerpunkt der politischen Macht in die Mittelclassen; die unterste
Stufe der Wähler bestand aus kleinen Gewerbtreibenden, aber diese gehörten
doch wie die gesammte übrige Wählerschaft zu den Besitzenden und Arbeit¬
gebern. Jetzt aber hat man eine große Classe herangezogen, welche keinen
Besitz hat und von Andern Arbeit nimmt. Das ist ein unermeßlicher Unter¬
schied, welcher durch das ominöse Wort Lord Derby's bezeichnet wird, zu dem
er im Oberhause gedrängt ward: der Erfolg der Bill lasse sich nicht berechnen,
sondern nur hoffen; unzweifelhaft sei sie „ein Sprung ins Dunkle". Und
wenn es schon an sich gefährlich scheint, denen die größte Macht zu geben,
die am wenigsten Einsicht und am wenigsten zu -verlieren haben, so ist es
besonders gefährlich in England, wo diesen städtischen Massen gegenüber das
Gegengewicht eines zahlreichen Bauernstandes fehlt, welcher immer conservativ
gesinnt ist. Die Aeonen sind neben den Großgrundbesitzern ganz verschwunden;
es gibt außer den Letztern aus dem Lande fast nur noch Pächter und länd¬
liche Arbeiter, kein Boden ist also ungeeigneter für eine Demokratie als der
englische. Wie die Arbeiter das gegebene Geschenk brauchen, ist allerdings
abzuwarten, aber wir theilen vorläufig weder die macchiavellistischen Hoff-
nungen Disraeli's. noch die sanguinischen der Radtcalen. Die Rechnung des
erster» ist einfach die der Cäsaren und Oligarchen, sich auf die Massen gegen
die intelligente Mittelclasse zu stützen. Dies war schon in der Debatte im
Unterhause so deutlich, daß Mill ihm zurief: „Die Politik des sehr ehren-
werthen Herrn ist. unsere Institutionen zu reconstruiren auf dem Princip der
Demokratie geführt durch die Grundaristokratie, und seine Bill ist so schlau
ersonnen, daß sie einer großen Zahl abhängiger, aber nur einer kleinen Zahl
unabhängiger Arbeiter das Stimmrecht gibt, so daß der Einfluß der Retchen
nur gesteigert würde." Aber auch der jetzige Lordkanzler Lord Catrns gestand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/359>, abgerufen am 06.02.2025.